Die Logik des Verruecktseins
teilverwurzelt. Es wird nämlich beim Rauchvorgang ein kleines brustwarzengroßes Objekt von der Hand an den Mund geführt und anschließend eine beruhigende Umweltrelation hergestellt, die die erste Kontaktaufnahme des Neugeborenen mit der Welt zitiert. Gemeint ist das tiefe Inhalieren. Das Einatmen von Luft durch den erstickungsgefährdeten Neugeborenen ist die erste Bedrohungshürde, die im postuterinen Außen bewältigt werden muss. Raucher entspannen sich in der automatisierten und ritualisierten Abfolge erster
Umweltbezüge. Sie greifen nach der Schachtel, womit die Hand in Unsicherheitssituationen etwas zu tun bekommt, öffnen die Schachtel, fingern eine Zigarette heraus, führen den brustwarzengroßen Filter zum Mund, wodurch die Aufmerksamkeit an die Hand-Mund-Welt gebunden wird, und verrichten nach dem Entzünden der Zigarette die primäre Weltkontaktaufnahme sowie die erste Weltberuhigung durch das bei fehlender körperlicher Anstrengung eigentlich unnatürlich tiefe Inhalieren des Zigarettenrauchs. 61
Den enthemmungsbereiten Charakter der Hände kann man gut bei der sogenannten frontotemporalen Demenz beobachten. Durch Wegfall frontal (also im Stirnhirn sitzender) hemmender Bahnen gewinnen die Hände eine unter Umständen nicht mehr willentlich zu unterdrückende Unruhe. Ständig wird nach einem Objekt gegriffen, da das Bedürfnis, die Welt mit den Händen erfahrend zu betasten, nicht mehr gebremst werden kann. Oder die Hände werden ständig aneinander gerieben, ineinander gefaltet und geknetet.
Entgleisungsmöglichkeiten
Wie wir bereits bei der Exkursion über das Reden vor anderen sehen konnten, enthemmt innerliche Unsicherheit die Handfunktionen. Dabei kann lebensgeschichtlich eine Lösungsstrategie erwachsen, die großen Wert auf Ordnung im Außen legt, da dadurch (letztlich häufig ohne erkennbaren Zusammenhang für die betroffene Person) innerliche Widersprüche kompromisshaft beruhigt werden können. Die ordnungsversessene Lösungsstrategie wird dabei in den Charakter des Betroffenen eingebaut und verschmilzt zu einer mehr oder weniger deutlich ausgeprägten anankastischen, also zwanghaften Persönlichkeitsstruktur. Hier muss dann der Schreibtisch museal ordentlich sein, die Stifte in eine Richtung ausgerichtet und Termine überpünktlich eingehalten werden. Der Freiraum für Entspannung und Genuss wird durch die permanente Außenüberwachung allerdings immer stärker von den Ritualen der Ordnung eingepfercht, innerliche und zwischenmenschliche Leere ist die Folge. Je mehr
Rituale und anankastisches Verhalten im Dienste der Ablenkung von innerseelischen Problemfeldern in den Betroffenen einziehen, desto mehr Zwischenmenschliches zieht aus, da andere die Überordnung als störend empfinden. Die Ordnung soll ja der Welt dienen und nicht die Welt der Ordnung.
Die natürliche Berührungs- und Anfassungswut der Hände verträgt sich allerdings nicht in jedem Fall mit dem Wunsch des Organismus, Gefahrensituationen in der Welt zu vermeiden. Es drängt uns über die Hände an die Welt heran und drängt uns gleichzeitig über unsere Gefahrenvermeidungsängste von ihr weg. Dass die Realberührung der Welt durch die Hände Verschmutzungsrisiken birgt, davon geben Menschen mit Waschzwängen ein anschauliches Bild. Dutzende oder hunderte Male am Tag müssen die Betroffenen die Hände oder den ganzen Körper reinigen, wodurch oftmals der natürliche Schutzfilm der Haut zerstört wird und artifizielle Hautkrankheiten entstehen können. Diese schüren die Kontaminationsangst immer weiter und realisieren sie fatalerweise schließlich in einem nicht mehr zu durchbrechenden Teufelskreis. Die Unsinnigkeit der Handlungsabfolge kann meistens eingesehen, aber nicht korrigiert werden: Sie gehört zu mir, ich bin ihr Initiator, obwohl ich immens unter ihr leide.
Wer steuert hier wen?
Eine seltsame Entkoppelung von Meinsein gegenüber der eigenen motorischen Entäußerung der Hand liegt hingegen beim äußerst seltenen »alien-Hand«-Phänomen vor. 62 Hierbei kommt in der Folge neurologisch relevanter Schädigungen des Gehirns, z.B. durch Tumore im Bereich des die Gehirnhälften verbindenden Corpus Callosum, zu einem Entfremdungserleben gegenüber der eigenen Hand, die nicht mehr zu einem selbst gehörig erlebt wird und scheinbar ein Eigenleben entwickelt. Manchmal kommt es dazu, dass die eine Hand willentlich eine Handlung durchführt, die von der alien-Hand unterlaufen wird, z.B. die eine Hand eine Knopfleiste
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