Die Logik des Verruecktseins
gesprochen, stärker unter die Haut geht als das Felllausen. Wer Steine werfen konnte, der konnte und »musste« auch bald mit Lauten um sich werfen. Laute, die allmählich zu Worten wurden, und Worte, die allmählich zur
Sprache wurden. 66 Sprachfähigkeit ist das Unterscheidungsmerkmal des Menschen zu allen anderen Tieren. Sie ist der Kitt, der unseren sozial hochsensiblen Vorfahren das Zusammen-bleiben-Können über den Weg der Evolution ermöglichte.
Stimmen hören
Wir hatten ganz zu Beginn dieses Unternehmens bereits gesehen, dass das Hören von Stimmen schon im ersten natürlichen Raumverhältnis, also im Uterus, als Erfahrungsmoment zur individuellen Menschwerdung gehört. Ab der zwanzigsten Schwangerschaftswoche hört das Kind in der Mutter bereits deren und andere Stimmen, den Herzschlag, das Rauschen des Blutes und die Darmgeräusche. Das Hinhören und das Weghören ist, wie von Kinderphrenologen gezeigt wurde, die erste menschliche Intentionalität. Die erste zu treffende Entscheidung im Leben ist dann die, ob »ich« lausche oder »mich« akustisch verschließe und weghöre. Die erste Ahnung von etwas, das ich nicht bin und das außerhalb von mir liegt, der erste Erfahrungshorizont, der schon im Mutterleib beginnt, ist demnach der »Ohrizont«. Es verwundert deshalb nicht, dass menschliche Psychopathologie angehäuft ist mit Störungen der Sprache.
Bei der Schizophrenie etwa treten fast immer akustische Wahrnehmungsstörungen auf. Es werden Geräusche gehört, sogenannte Akoasmen, die als ein Pfeifen, Stampfen, Rauschen oder Plätschern beschrieben werden. Vermutlich sind es sehr frühe Audioengramme aus der Zeit im Mutterleib, die hier wieder aktualisiert und projiziert
gelauscht werden. Auch das Stimmenhören mit und ohne Richtungswert ist sehr häufig. Oft beginnt es als ein Stimmengemurmel, ähnlich einem Partyhintergrundschwatzen, bei dem einzelne Worte nicht herausgefiltert werden können. Sind die Patienten längere Zeit krank, stechen plötzlich einzelne Worte aus dem bedeutungslosen Gemurmel hervor. Der eigene Name wird gerufen, kurze verständliche Worte ausgesprochen. Steigert sich die Angst im Patienten aufgrund fehlender Behandlung weiter, wird noch mehr humanspezifische akustische Nebenrealität projiziert und ganze Sätze werden formuliert. Mehrere Stimmen können dann über den Erkrankten sprechen oder auch direktiv-imperativ auf ihn einwirken. Erfolgt viel Wahnarbeit, wird das Gehörte zu einem Sinnzusammenhang verwoben, bedeutungslose Erlebnisse vor diesem Hintergrund aufgenommen und in das innerliche Konstrukt einsortiert. Eine Distanzierungsfähigkeit vom eigenen Interpretationshorizont, welche die Voraussetzung für eine Krankheitseinsicht ist, ist dann aufgrund der globalen Reduktion des Binnenvolumens nicht mehr möglich.
Auch die Sprachproduktion ist bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen betroffen. Depressive reden, ihrem verminderten Selbstwertgefühl entsprechend, mit leiser und brüchiger Stimme. Maniker poltern sprachlich laut und im Redefluss unbremsbar, aus der vor sich selbst geheim gehaltenen Angst heraus, überhört und übersehen zu werden. Werden Gesunde unsicher, hebt sich ihre Stimmlage an und gewinnt eine infantile Note. Vermutlich steckt hierhinter eine Vokalregression, die dem anderen signalisieren soll: Ich bin so klein, tu mir nichts. Andere Unsichere überschlagen sich in sozialen Stresssituationen stolpernd im Sprechen oder verschmälern ihre Prosodie zu einem hölzern wirkenden Sprachfluss.
Auch in der ersten Ergänzertätigkeit kommt viel unbewusstes, evolutionär erworbenes Wissen über Kommunikation mit Neugeborenen zum Einsatz. Vor allem Mütter heben ihre Stimmlage an und sprechen den Säugling »instinktiv« mit einfachen, symbolfreien Lautmalereien an (»Eieieieiei, dududududu, dadadada«), die vom Säugling besser verstanden werden können als tiefe, symbolbelastete Brummlaute der erwachsenen menschlichen Sprache. Dies ist keine
Regression der Mütter, sondern eine hochgradig sensible Einstellung und Feinfühligkeit gegenüber dem anderen, der noch nur rudimentär versteht. Da die Sprache die letzte unserer evolutionären »Errungenschaften« ist, gehört sie auch zu den fehleranfälligsten und ist deshalb bei vielen psychiatrischen Erkrankungen auf die eine oder andere Art und Weise in Mitleidenschaft gezogen. Unser Sehapparat hingegen ist deutlich weniger fehleranfällig. Obschon nicht minder kompliziert, ist er aufgrund seines viel
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