Die Logik des Verruecktseins
er in lebensechter Nachbildung und wirft dem eintretenden Neuankömmling einen liebevoll spöttischen Blick zu. Hier verkehrte er und mit ihm andere Literaten wie Egon Friedell, Alfred Polgar und der stets unlustige Karl Kraus. Der Ober, ganz Herr, weist einen Platz zu und stellt, nachdem Sie sich durch Einspänner, Zweispänner, Fiaker, Brauner und Dutzende andere Kaffeebezeichnungen hindurchgekämpft und endlich entschieden haben, den wohl Millionsten Kaffee seiner Oberlaufbahn auf Ihren Tisch. Am Nachbartisch ein Mann und eine Frau. Er spricht sehr flehentlich mit ihr und sie wirkt leicht verschnupft. Wenn er nicht schweigt, scheint sie noch mehr zu frösteln, innen wie außen, was den Herrn aber nicht entmutigt. Er spricht offensichtlich mehr zu einem Bild in sich als zu der Frau. Je mehr er sich erhitzt, desto stärker kühlt sie ab. Welch tragisches Temperaturgefälle. Peter Altenberg könnte sich selbst zitieren und den Anfang einer seiner Kurzkurzgeschichten herüberrufen, die in der Regel nicht viel länger sind als der erste Satz: »Er liebte sie wahnsinnig, aber vergebens. Man liebt immer nur wahnsinnig, wenn es vergebens ist.« Aber P.A., wie seine Freunde ihn nannten, schweigt. Und Sie schweigen ein wenig mit …
Nun aber auf in die Berggasse zu Sigmund Freud. Doch wie hinkommen? Leider müssen wir uns jetzt selbst entlarven, holen den Stadtplan Wiens aus der Tasche und »outen« uns als Touristen. Wir sind hier … und dort wollen wir hin …, »Ober zahlen«, und dann stürzen wir uns wieder in die Stadt.
Stadtplanpsychologie
Komplexe Phänomene und Strukturen sind nur über den Weg des Reduktionismus zu überblicken. So wie die Stadt Wien von vielen Einzelheiten gebildet wird, von Straßen, Häusern, Fiakerkutschen, Autos, Menschen, Jungen, Alten, Verliebten, Ergrauten, Enttäuschten, Hoffenden, Kurztouristen, wieder Enttäuschten, immer noch Hoffenden, so sind die Phänomene, mit denen sich psychische Krankheiten zeigen, vielgestaltig und unübersichtlich. So, wie man aber ohne Straßenkarte nicht den Weg durch Wien findet und sich an den Einzelheiten verliert, so brauchen Mediziner und eben auch die Psychiater ein Klassifikationssystem, das ihnen Orientierungshilfe im Phänomengetümmel gibt. In der Medizin wird deshalb versucht, Krankheitszeichen aufzuspüren, die dann Symptome genannt werden. Symptome wiederum bündelt man zu Syndromeinheiten, die selbst noch keine Krankheit sind, aber aus angeblich spezifischen Leitsymptomen bestehen, die mehr oder weniger häufig gemeinsam auftreten, da sie in einem ursächlichen Kausalzusammenhang stehen könnten.
Die Sakralstimmung im Stephansdom wird gebildet durch Weihrauchduft, Kerzenschein, Stille und die andächtig Betenden. Natürlich brennen auch anderswo in der Stadt Kerzen, natürlich knien auch anderswo Menschen und wiederum woanders können manche die Hände vor das Gesicht legen. Keines der »Symptome« der Sakralstimmung ist für sich beweisend oder typisch für das Stephansdomgeschehen. Treten sie aber gemeinsam auf - der Weihrauchduft, der Kerzenschein, die Stille und die Betenden -, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich als Beobachter des Geschehens in einem religiösen Sakralbau befinden, relativ groß.
Nicht viel anders wird in der Medizin diagnostiziert. Ärzte suchen bei der Untersuchung der Patienten nach Krankheitszeichen. Sie untersuchen die körperliche wie auch die innerseelische Befindlichkeit. Dazu erstellen sie einen psychopathologischen Befund, der die Erlebniswelt des Patienten in Fachbegriffen zusammenfasst und versucht, die Hauptproblemfelder zu eruieren. Letztlich ist das Stadtplanpsychologie, aber nur durch sie findet man die seelischen Baustellen
und die einsturzgefährdeten Seelengebäude, denen die Aufmerksamkeit der pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlung gelten muss. Ohne eine solche Simplifikation gäbe es für Sie als Tourist keine Orientierungshilfe in Wien und ohne Seelenstadtplan auch keine Orientierungshilfe für die Therapeuten bei der Behandlung. Ein Stadtplan ist zweidimensional und langweilig, aber für bestimmte Fragestellungen präzise in seinen »Antworten«. Diagnosen sind eindimensional, noch langweiliger, aber eine präzise Hilfe für die Therapeuten. Und auch die Patienten wollen wissen, was sie eigentlich für eine Krankheit haben. Viele, wenn auch sicher nicht alle, wollen wissen, was ihr Problem ist, weshalb Diagnosen, neben dem Stigmatisierungsproblem, das sie provozieren
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