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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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können, immer auch Entlastungsmomente bergen.
Wenn das Modell zur Realität erhoben wird
    Doch Vorsicht! Der Stadtplan von Wien ist nicht die Stadt Wien! Er sagt uns nichts darüber, wie der Kaffee im Central schmeckt, warum die Frau am Nachbartisch von ihrem Begleiter gelangweilt war, wo der Stadtmusikant nachts schläft oder wie der Ober sich fühlt, der fast schon sein ganzes Leben lang bedient. Wenn er selbst in ein Kaffeehaus geht, beobachtet und bewertet er dann alles mit den Augen eines Obers oder kann er selbst auch noch Gast sein? Und dann wären da noch die Erinnerungen an andere. Peter Altenberg, lange schon tot, doch immer noch präsent im kollektiven Gedächtnis der Stadt. Durch seine Bücher, aber auch durch kursierende Anekdoten über ihn, die man sich amüsiert erzählt.
    Das alles verrät uns der Stadtplan nicht. Wohl aber, wie wir in die Berggasse 19 gelangen können. Freud selbst hat 1923 mit dem von ihm so bezeichneten »psychischen Apparat«, der bekanntermaßen aus Ich, Es und Über-Ich besteht, einen genial einfachen Seelenstadtplan vorgelegt, der zum Verständnis des Geschehens für manche therapeutische Zwecke sehr brauchbar ist. Natürlich gibt es im Gehirn aber gar kein Ich, kein Es und auch kein Über-Ich. Trotzdem
ist der psychische Apparat das erfolgreichste Modell zum Verständnis seelischer Prozesse geworden und hat sich in unserem Kulturkreis auch im Laienbereich als Erklärungshilfe menschlichen Erlebens und Handelns durchgesetzt. Durch achtzig Jahre Reden über das Modell verwandelte sich das Modell allerdings in eine konkrete Realität. Das Gehirn arbeitet dann in der Vorstellung vieler Laien und auch mancher Fachleute nicht mehr so, dass seine Funktion mit Hilfe des Modells erklärt werden könnte, sondern es besitzt dann angeblich tatsächlich ein Ich, ein Es und ein Über-Ich. Achtzig Jahre psychoanalytisches Stadtplanstudium in Fach- und Laienkreisen hat die eigentliche Stadt in den Hintergrund treten lassen und das Modell zur Realität erhoben. 67
    Ähnlich verhält es sich mit den psychiatrischen Krankheitseinheiten. Sie sind ein Konstrukt, eine Modellerfindung, ein Psychopathologiestadtplan, der die Seele in verschiedene Stadtkrankheitsbezirke einteilt und so tut, als seien diese tatsächlich existent.
    Einer der bedeutendsten Verständnissprünge der Psychiatriegeschichte in Sachen Krankheitsstadtplan geht auf Emil Kraepelin (1856-1926) zurück. Kraepelin war ein großer Bewunderer des Naturforschers Carl von Linné (1707-1778) und nahm dessen Werk zum Vorbild, um für die Psychiatrie ein ähnliches Ordnungssystem zu erstellen, wie es Linné mit seiner »Systema naturae« und deren Taxonomie, die bis heute Verwendung findet, vorgelegt hatte. Kraepelin ordnete die diffusen und mit oberflächlichen Beschreibungen operierenden psychiatrischen Diagnosen seiner Zeit, häufig nur als »einfache Seelenstörung« bezeichnet, neu, indem er Leitsymptome herausarbeitete und Symptomkomplexe, sogenannte »Syndrome« erstellte. Er führte die Diagnoseabhängigkeit vom Symptomverlauf als diagnostisches Merkmal ein, wie es heute selbstverständlich ist. In einem genialen Wurf differenzierte Kraepelin 1899 die schweren psychiatrischen Krankheiten in zwei große Gruppen, nämlich in das »manisch-depressive Irresein« und in die »Dementia praecox«. Nach Kraepelin heilen die erstgenannten, heute als »affektive Störungen« bezeichneten Erkrankungen aus, während die anderen in einer Defektbildung der Intelligenz münden sollten. Damit wurde viel Klarheit
im diagnostischen Prozess gewonnen und aus einem psychiatrischen Flickenteppich wurde eine solide, übersichtliche Verständnisbasis gewoben, auf der klinische Forschung im modernen Sinne erst möglich wurde.
    Allerdings sahen nicht alle Psychiater die von Kraepelin behauptete »vorzeitige Verblödung« mancher Patienten. 1911 korrigierte Egon Bleuler (1857-1939) mit seinem viel treffenderen Modell der »Gruppe der Schizophrenien« das Konzept der »Dementia praecox«. Als gemeinsamen Kern der »Dementia praecox«-Gruppe sah er nicht eine im Verlauf auftretende Intelligenzminderung, sondern eine Gespaltenheit des Geistes, in deren Folge der Patient mit anderen eine Realität teilt, gleichzeitig aber in einer abgeschotteten Privatrealität lebt - jedoch nicht im Sinne einer Persönlichkeitsspaltung, wie vielfach von Laien angenommen wird, sondern im Sinne eines Integrationsverlustes der geistigen Fähigkeiten.
    Auch wenn Kraepelins

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