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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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Alkoholtrinken aufzuhören. Tausendmal versprochen, soll es jetzt endlich wahr werden. Liegt eine körperliche Abhängigkeit vor, kann dies allerdings fatale Folgen haben. Es entwickelt sich ein Entzugssyndrom, das von harmlosen Schlafstörungen über vegetative Entgleisungen bis zum Krampfanfall reichen kann. Für unser Themengebiet ist allerdings eine weitere Komplikation von besonderer Bedeutung: das Alkoholentzugsdelir.

Im Delirium
    Während eines Delirs besteht eine Bewusstseinstrübung mit herabgesetzten kognitiven Kapazitäten und Desorientierung zum Ort, zur Zeit und vor allem zur Situation. Motorische Störungen können ebenfalls auftreten. Die Patienten sind fahrig, unruhig und laufen unter Umständen getrieben hin und her. Andere liegen apathisch da und rühren sich kaum. Die Stimmung kann inadäquat heiter oder äußerst ängstlich gespannt sein. Je tiefer das Delir reicht, desto weniger Emotionen werden generiert. Typisch ist die Fluktuation des psychopathologischen Bildes. Gerade wirken die Patienten besonnen und ansprachefähig, im nächsten Moment wird große Unruhe und unter Umständen andere oder sich selbst gefährdende Aggressivität entladen. Nach Abklingen des Delirs besteht häufig eine Amnesie für
den Delirzeitraum, die Patienten erinnern sich gar nicht oder nur bruchstückhaft an das Geschehene. Einzelne Ereignisinseln der deliranten Wahrnehmungsinhalte und ihrer beigeordneten Angst können allerdings gelegentlich erinnert werden und bleiben lebenslänglich rätselhaft querstehend zum übrigen Lebensverlauf.
    Strukturell betrachtet bestehen große Überschneidungen zum Ausdruck und Verlauf des sogenannten Durchgangssyndroms. Das Durchgangssyndrom bezeichnete früher einen körperlich begründbaren Verwirrtheitszustand, z.B. postoperativ auftretende psychotische Bilder oder symptomatisch verursachte zentralnervöse Dekompensationen, bei denen allerdings die Bewusstseinstrübung fehlt. 74 Das Bewusstsein ist zwar eingeengt, aber nicht im engeren Sinne getrübt, das Denken in Form, Inhalt und Kritikfähigkeit nivelliert. Auch bei den Durchgangssyndromen können nach deren Abklingen und vollständiger Remission Erinnerungsinseln bestehen bleiben, deren Einordnung in den Lebens-Sinn-Kontext nicht gelingt. Aufgrund des erheblich reduzierten Binnenvolumens und seiner eigenen Weltinterpretationen während des Delirs ist das Gehirn auch hinterher nicht in der Lage, das Delirerleben und seine stehengebliebenen bruchstückhaften Erinnerungen in einen Sinnkontext einzuordnen. Es ist, als sei beim Sinn-Stricken am Lebensfaden während des Delirs eine Masche fallengelassen worden, die in der Folge nicht mehr aufgenommen werden konnte und die nun aus allen übrigen Erinnerungen hervorspringt. Immer wieder kehren die Betroffenen später grüblerisch zur Delirerinnerung zurück. Aus dem Fragezeichen gelingt es aber aufgrund der damaligen, subjektiv richtigen Realitätssicherheit heraus nicht, ein Ausrufezeichen zu bilden.
    Ausgeprägte delirante Alkoholentzugsbilder, die potentiell auch immer lebensbedrohlich sind, sind in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise seltener geworden. Dies liegt sowohl an der sehr niedrigschwelligen Aufnahmebereitschaft der Krankenhäuser wie an der pharmakologischen Behandlungs- und Verhinderungsmöglichkeit deliranter Symptome während der stationären Entgiftungsbehandlung. Gut für die Patienten, schlecht für den Psychiater, der immer seltener die psychopathologischen Bilder sieht, die er eigentlich zur
Erlangung seines Strukturverständnisses der menschlichen Seele aus eigener Anschauung kennenlernen muss. Es ist etwas anderes, ob man selbst schon einmal in Wien war oder einen auch noch so guten Reisebericht liest, wie es etwas anderes ist, ob man schon einmal einen deliranten Patienten erlebt hat oder dieses Phänomen nur aus der medizinischen Fachlektüre kennt.
    Im Folgenden betrachten wir einige authentische Fälle von Alkoholentzugsdelirien und wollen sehen, ob das am Ende des letzten Kapitels gegebene Versprechen eingehalten werden kann, die Existenz der vom Gehirn projizierten, evolutionär gewachsenen Raumbühnen des Außensorgenhorizontes anhand klinisch psychiatrischer Erfahrung zu beweisen .
Fallbeispiel 1: Stimmen aus der Wand
    Die Polizei bringt einen 38-jährigen Mann notfallmäßig in die psychiatrische Abteilung. Nachbarn, die aus der Wohnung des Mannes einen starken Lärm vernommen hatten, hatten die Polizei verständigt. Als diese eintraf, vernahmen

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