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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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aber alles kann auch Hinweis auf die drohende
Erfüllung meiner sozialen Erwartungsängste sein. Da der Informationsgehalt so spärlich ist, die Bedeutsamkeit und das Gefahrenmoment aber so groß, wölbt sich die dritte Bühne trichterförmig nach oben, weshalb sich alles auf mich bezieht und ich von allem gemeint sein kann. Es bleibt unklar, ob ich selbst auf der dritten Bühne ein gerade teilnahmsloser Statist bin oder der heimliche Hauptdarsteller, der nur noch nicht über seine Hauptrollenfunktion informiert worden ist. Ob die Hauptrolle mich zum gefeierten Star macht oder zum Totalverlierer, bleibt ebenfalls verschleiert hinter den Verhaltensweisen der anderen und muss deshalb aus deren Ausdrucksverhalten heraus decodiert werden. Eine Dauerstatistenrolle, in der ich nie zum Bedeutungszug komme, ist dabei nur die lautlose Form des Totalverlierens.
    Der Vorhang der dritten Bühne geht in der lebensgeschichtlichen Entwicklung dann auf, wenn erkannt wird, dass die beiden Ergänzer einander ebenfalls Raumbühnenteiler sind, deren Zuwendung zueinander eine Abwendung von mir bedeutet oder bedeuten könnte. Das emotionale Orchester in uns spielt dabei zu diesem Bühnenstück ganze Moll-Sinfonien aus Neid, Hass, Wut und Konkurrenz ebenso wie Musikstücke, die aus Wiedersehensfreuden, Beobachterglück und harmonischen Dreipersonenakkorden bestehen. Die frühe Triangulierung des Kindes mit den beiden Ergänzern ist das anstrengende Trainingscamp, welches auf die dritte Raumbühne des Erwachsenen mehr oder weniger erfolgreich vorbereitet. Geschwister sind Verkomplizierungsmomente dieses Vorgangs, die, abhängig von der Ausgewogenheit des emotionalen Familienorchesters, entweder zu lebenslänglichen Freunden oder lebenslänglichen Konkurrenten werden können oder irgendetwas dazwischen.
Der vierte Raum: Was wir nicht sehen, aber hören können
    Hinter dem sichtbaren dritten Raum schließt sich die vierte Raumbühne an. Sie ist wie ein Saum um die dritte Raumbühne herumgelegt. Optisch ist das in oder auf ihr Geschehende nicht zu erfassen. In
Ihrer Lesesituation ist dies der Raum hinter dem Zimmer, in dem Sie sich gerade befinden. Wie z.B. der Raum nebenan, in den Sie nicht hineinsehen können, der hinter der Zimmertür beginnt, oder der unmittelbare Raum hinter dem Fenster. Die vierte Raumbühne ist weit genug von Ihnen weg, dass keine mittelbare, leibliche Gefahr drohen kann, er ist aber immer noch so dicht an Ihnen, dass er auch nicht ignoriert werden kann. Sein Geschehen findet jedoch hinter einem verschlossenen Vorhang statt und nur Geräusche und Gerüche aus diesem Raum dringen zu Ihnen herüber. Unwichtige Geräusche? Bekannte Geräusche? Unbekannte oder gar verdächtige Geräusche? Nähert sich jemand oder etwas leise und heimlich?
    Das einzige Richtungsradar, mit dem Sie den unsichtbaren Raum abscannen können, ist Ihr Gehör. Dem Geruchssinn hingegen kommt keine stimmige Richtungserkennung zu. Alleine mit Hilfe des Gehörten müssen Sie sich Klarheit verschaffen, ob eine Bedrohung aus der vierten Raumbühne vorliegen könnte oder ob Sie in aller Ruhe weiterlesen können. Hier finden sich die spärlichsten und nur aus einer einzigen Sinnesmodalität gewonnenen Informationseinheiten aller Bühnen und dennoch die gleiche Notwendigkeit wie auf den vorangegangenen, sich ein Bild darüber zu machen, was dort geschieht.
    Von allen akustischen Informationen, die zu Ihnen herangeweht kommen können, ist diejenige die wichtigste, die von einem Artgenossen stammt. Auf keinen Fall dürfen Sie etwas überhören, was von einem anderen auf der vierten Raumbühne gesprochen wird und schon gar nicht dann, wenn es dabei um Sie gehen sollte. Hier finden wir erstmalig einen nicht mehr primatenspezifischen, sondern alleinig humanspezifischen Raumbühneninhalt. Alle anderen Raumbühneninhalte des gestaffelten Welttheaters finden sich auch bei Primaten und manchen höheren Säugetieren. Das Wort aber ist alleinig ein von uns erwarteter Bühneninhalt. Genauer sollte man wohl sagen: Wir sind von allen Wesen, welche jemals auf der Erde gelebt haben und welche eine sprachliche Raumweltbühnenerwartung in sich tragen, die einzige Art, welche bis heute überlebt hat. 72 Problematisch ist, dass diese dringliche Worterwartung zu den jüngsten evolutionären Errungenschaften unserer Art gehört. Je phylogenetisch älter eine
evolutionäre Entwicklung ist, desto stabiler zeigt sie sich bei Stressungsdekompensationen des Gehirns. Bei schweren

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