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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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die Polizisten ebenfalls einen ohrenbetäubenden dumpfen, rhythmisch auftretenden Lärm aus der Wohnung. Die Beamten klingelten und es öffnete ein Mann deutlich angespannt und unruhig die Wohnungstür. Er begrüßte die Polizisten erfreut und gab gehetzt wirkend an, erleichtert zu sein, da sie ihm doch jetzt helfen könnten. Die Beamten betraten die Wohnung und folgten dem Mann in sein Wohnzimmer. Dort eröffnete sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Die Wände des Wohnzimmers waren sämtlich freigeräumt worden, wozu Bilder abgehängt und ein großes Bücherregal umgeworfen worden waren, sodass überall auf dem Boden Bücher herumlagen. Die Wände waren an verschiedenen Stellen schwer beschädigt, die Tapete heruntergerissen, der Putz und teilweise das Mauerwerk herausgebrochen. Den sprachlosen Polizisten rief der Mann zu, dass man den armen Leuten helfen müsse, und bevor die Beamten reagieren konnten, griff er nach einem Hammer
und schlug mit aller Kraft wiederholt auf die Wand ein. Wie sich herausstellte, hörte er halluzinatorisch Hilferufe und Schreie, die er in die Wand hinein lokalisierte und deshalb glaubte, dass dort Menschen eingemauert worden seien, die befreit und gerettet werden müssten.
    Am Tag vorher hatte er seinen erheblichen täglichen Alkoholkonsum schlagartig aufgrund eines Abstinenzwunsches eingestellt. Die Überführung in die Klinik durch die Polizei, die dem Mann erst versprechen musste, sich um die Befreiung der Eingeschlossenen zu kümmern, verlief komplikationslos. Bei Aufnahme war der Patient zur Zeit vollkommen desorientiert, zum Ort vage orientiert, er erkannte ein Krankenhaus, wähnte sich aber im Krankenhaus seiner Geburtsstadt, in der er bis zur Volljährigkeit gelebt hatte. Psychomotorisch war er sehr unruhig, konnte nicht still sitzen, war diffus ängstlich und schließlich auch gereizt. Seine Entgiftung, unterstützt durch entsprechende angstlösende und antipsychotisch wirksame Medikation, war im Verlauf dann unauffällig. Nach Abklingen des Delirs war er ein besonnener und höflich auftretender Mann mit hohen humanistischen Idealen. Er war sehr belesen und gab als einen seiner Lieblingsautoren Edgar Allan Poe an, der bekanntlich Gruselgeschichten geschrieben hat, in denen Menschen lebendig begraben oder eingemauert werden.
    Während seines Delirs hatte der Patient im häuslichen Bereich vollkommen richtig und realitätsnah die dritte Raumbühne, gebildet von seinem Wohnzimmer, projiziert. Sämtliche auf dieser Bühne befindlichen lebenden und unbelebten Objekte waren zutreffend identifiziert worden: die Bilder als Bilder, das Regal als Regal, die Bücher als Bücher, der Hammer als Hammer und die Polizisten als Polizisten, einschließlich ihrer Rolle als »Freund und Helfer«. Das Themen- und Sorgenfeld der vierten Raumbühne, die sich, Sie erinnern sich, saumförmig über die dritte Raumbühne wölbt, wurde hingegen realitätsfern im Delir entladen. Es wurde nur akustisch halluziniert, das Wohnzimmer selbst zutreffend als ausreichend sorgenfrei identifiziert. Die dahinter aber potentiell liegende Gefahr von oder für andere Menschen wurde projiziert-halluziniert.

    Die erste Projektion in die Welt, die im Delir fehlerhaft halluziniert wird, ist die menschliche Stimme in Form von Rede. Als jüngste Errungenschaft der Evolution ist sie die empfindlichste aller Wahrnehmungen und benötigt zur ihrer genauen Projektion in die Welt ein Maximum an fehlerfreien psychischen Funktionen, die aber eben im Delir verloren gehen.
    Die Verminderung des Binnenvolumens der Person wird deutlich in der Halluzination selbst, ebenso wie in der wahnhaften Erklärung der Stimmen. Es zeigt sich eine deutliche Kritikminderung gegenüber dem eigenen Erklärungsansatz. Wie sollen Menschen, ohne dass Spuren hinterlassen werden, in das Mauerwerk eines Wohnhauses eingemauert werden? Auch war der Patient selbst nicht auf die Idee gekommen, die Polizei zu rufen. Auch die Desorientierung, die sprunghaft formalen Denkstörungen, die psychomotorische Unruhe und die noch in der Klinik sichtbare diffuse Verängstigung sind Auswirkungen des reduzierten Binnenvolumens. Wäre die Situation tatsächlich zutreffend gewesen, wäre vieles im Verhalten des Mannes den Umständen angemessen gewesen. Das Binnenvolumen war aber andererseits auch nicht so weit reduziert gewesen, dass die Persönlichkeit, die individuell erworbenen Lebenserfahrungen einschließlich des literarischen Interesses »abgestellt« gewesen wären. Die

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