Die Logik des Verruecktseins
Literaturkenntnisse des Patienten hatten die wahnhafte Erklärung vermutlich gebahnt, aufgrund seiner humanistisch orientierten Lebenseinstellung forderten ihn die Schreie eher zur Hilfestellung auf und waren weniger bedrohlich auf seine Person gerichtet.
Andere Patienten erleben die akustischen »Meldungen« aus der vierten Raumbühne als extrem bedrohlich. Sie entwickeln ein sogenanntes Belagerungsdelir, in dessen Verlauf sie dann kommentierende und bedrohende Stimmen vernehmen und sich unter Todesangst in einem Zimmer verbarrikadieren. Die noch sichere, aber bedrohte dritte Raumbühne soll hermetisch vor der dahinter liegenden und verbal sich anmeldenden Bedrohung abgedichtet werden. Die Drohungsinhalte der Stimmen sind teilweise sadistisch pervers, weshalb gefährliche Fehlhandlungen wie vermeintlich notwendige Rettungssprünge aus dem Fenster mit schweren Sturzfolgen vorkommen.
Bei der Alkoholhalluzinose wird ebenfalls das gleiche Thema auf die vierte Raumbühne projiziert. Selbst bei erreichter Alkoholabstinenz fühlen sich die Betroffenen in einem Zimmer ihrer Wohnung sitzend bedroht von den Nachbarn, deren Stimmen und Androhungen sie akustisch durch die Wand wahrnehmen. Der chronische Alkoholabusus hat dazu geführt, dass auf der vierten Raumbühne permanent gespielt wird, obwohl die exogene Vergiftung durch den Alkohol bereits weggefallen ist. Wird dann zur Beruhigung wieder getrunken, verstärkt sich der Teufelskreis aus Symptomprovokation und Symptomreduktion mit Hilfe der fatalen Selbstmedikation.
Fallbeispiel 2: Optische Halluzinationen anderer Menschen
Vereinbarungsgemäß kommt in der Vorweihnachtszeit ein 45 Jahre alter Mann zur stationären Alkoholentgiftungsbehandlung. Er nimmt zunächst im Tagesraum der Station Platz und wartet auf mich als aufnehmenden Arzt. Als ich den Tagesraum betrete, um ihn zum Aufnahmegespräch zu bitten, kniet der Patient vor dem Tannenbaum der Station und spricht auf diesen ein. Auch als ich ganz dicht an ihn herantrete, bleibt er unabgelenkt durch mein Erscheinen in seiner Position und redet weiter. Als ich ihn anspreche, blickt er kurz zu mir herüber und gibt an, gleich zu kommen, da er sich noch mit seinem Freund zu Ende unterhalten wolle, und monologisiert wieder in Richtung des Tannenbaums. Meinen Hinweis, dass sein Freund doch gar nicht da sei und er mit dem Tannenbaum spreche, lacht der Patient weg. Er sehe ihn doch schließlich.
Nach einiger Zeit folgt er mir in das Arztzimmer. Im Aufnahmegespräch ist dieser Patient ebenfalls nicht orientiert, weiß auch nicht mehr anzugeben, wie er überhaupt in die Klinik, die er für ein Hotel hält, gekommen sei. Die Stimmung ist gehoben, wiederholt lacht er unmotiviert wirkend und gibt auf Nachfragen an, der Freund grinse ihn so belustigend an. Erst jetzt bemerke ich, dass der Patient den Freund auch in den Arztzimmerraum hinein halluziniert. Darum
gebeten zu zeigen, wo er sich befinde, deutet er auf einen leeren Stuhl. Später stellt sich heraus, dass der Patient mit der telefonischen Mitteilung der Station, ihn am kommenden Tage aufnehmen zu können, den Alkoholkonsum eingestellt hatte, um auf keinen Fall alkoholisiert zur Aufnahme zu kommen, da ihm dies sehr peinlich gewesen wäre. Dadurch war er kurz vor der Aufnahme in das Delir gerutscht. Der halluzinierte Freund war sein bester Trinkkumpan.
In der dritten Raumbühne taucht bei fehlerhafter Projektion als optische Halluzination der Artgenosse auf, der in der vierten Raumbühne nur gehört werden konnte. 75 Er wird jetzt gesehen, spricht aber üblicherweise nicht. Es treten in der Regel vertraute Personen und Szenen auf, Familienangehörige oder Freunde. Die Persönlichkeit ist so weit erhalten, dass aus dem lebensgeschichtlichen Fundus geschöpft wird. Es können auch ganze Szenen halluziniert werden, Patienten sitzen dann z.B. in ihrer Lieblingskneipe und bestellen ein Bier. Das Binnenvolumen ist aber so weit reduziert, dass die in der Szene vorkommenden Menschen nicht akustisch wahrgenommen werden können: Die für diese Halluzinationen benötigten Binnenraumvolumina sind bereits abgeschaltet. Führend für die Raumwahrnehmung ist jetzt nicht mehr das Ohr, sondern das Auge. Der Raum wird nicht mehr in allen Einzelheiten korrekt wahrgenommen und stimmig projiziert. In durchaus zutreffende Raumteilaspekte werden stattdessen ausschnitthaft Inseln hineinhalluziniert, die für den Betroffenen aufgrund seiner noch stärkeren Kritikminderung widerspruchslos
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