Die Lucifer-Connection (German Edition)
zur Jahrhundertwende war sie der schlimmste Slum der Welt, Ort furchtbarster Armut und schrecklichster Verbrechen gewesen. Als Charles Booth 1889 seine berühmte Armutskarte von London entwarf, zeichnete er Spitalfields schwarz, um es als „sehr arm, unterste Schicht, lasterhaft, halbverbrecherisch“ zu bezeichnen. Wenn man die Gegend nachts durchwanderte, schien man immer noch, kaum überdeckt, den Geruch von Armut und üblen Lastern in die Nase zu kriegen – als wäre Spitalfields wirklich ein verfluchter Ort. Tagsüber war das anders. Gill kam sich vor, als würde er in der Kulisse eines Gangsterfilms herumwandern. Das eifrige Treiben der Textilfirmen beim Beladen der Laster hatte irgendwie etwas Illegales, wie Schnapsverschieben während der Prohibition.
Zwischen Bethnal Green Road und Whitechapel Road breitete sich das ganze Spektrum des östlichen London aus: heruntergekommene Straßen neben frisch renovierten, dazwischen in Bahndämme gegrabene Autowerkstätten. Ein paar hundert Meter hinter der U-Bahn-Station Whitechapel befand sich der „Blind Beggar“, echte Folklore und der vielleicht berühmteste Pub des Eastend. Auf dem breiten Bürgersteig davor hatten ein paar Dutzend Straßenhändler ihre Stände aufgebaut. Taschen und Textilien. Nachdem der „Beggar“ durch Ronnie Kray unfreiwillig eine bestimmte Sorte Publicity bekommen hatte, war er total renoviert worden. Während „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“ von den Walker Brothers aus der Musikbox erklang, hatte Ronnie damals geschossen und Cornells Lebenslicht ausgeblasen …
Über dem Eingang hieß es verheißungsvoll „Ruddles Best Bitter Lives Here“ – ein guter Grund, einzutreten. Rotes Licht, ein anheimelnder Kamin und nur ein paar Tische an den Wänden. Vor der großen Theke war genug Platz für die sauber gekleideten Geschäftsleute, die nach der Arbeit auf ein Gläschen einkehrten. Das Publikum war gemischt: Subkulturtypen, die immer weiter ins Eastend vordrangen, ein paar Oldtimer, Verkäuferinnen, junge Verliebte. Seinen Namen hatte der Pub nach einem Gedicht aus dem 17. Jahrhundert: „The Blind Beggar of Bethnal Green“. Darin ging es um einen Bettler, der eine wunderschöne Tochter hatte. Doch sobald die Jungs, die hinter ihr her waren, erfuhren, dass sie die Tochter eines Bettlers war, nahmen sie Reißaus. Eines Tages kam dann natürlich der obligatorische hübsche Bursche. Ihm waren die wirtschaftlichen und familiären Verhältnisse egal, und er heiratete sie. Umgehend stellte sich heraus, dass der Bettler kein armes Schwein, sondern ein Verwandter des reichen und mächtigen Simon de Montfort war. Der Bettler schwamm im Geld und hatte nur nicht gewollt, dass seine Tochter wegen des schnöden Mammons geheiratet würde. Genau die richtige Story für diesen Ort zerbrochener Träume.
***
Gill holte sich ein Bitter. Englisches Bitter-Bier und verschiedene belgische Biere waren nach seinem Geschmack die besten der Welt. Deutsche Biere, mit Ausnahme einiger bayrischer Dunkelbiere, waren seiner Meinung nach völlig überschätzt und geschmacklich langweilig.
Er setzte sich an einen kleinen Tisch, von dem aus er die Eingangstür beobachten konnte, und hing seinen Gedanken nach. Mit Johns Verbindungen sollte herauszufinden sein, wo sich Zaran aufhielt. Wahrscheinlich glaubte der, Gill würde eher Gott finden als ihn. Doch die Unterwelt-Connections liefen nicht erst seit der Lord-Boothby-Affäre vom finstersten Eastend bis hinauf ins Oberhaus. Man musste nur die richtigen Leute durch die richtigen Leute auf die richtige Weise ansprechen. John war ein guter Kommunikator, da er als Schriftsteller mit linker Vergangenheit auf vielen Ebenen akzeptiert wurde.
Die Tür schwang auf, und John trat ein. Das Haar perfekt geschnitten, ein teures Sakko lässig über der Jeans. Ein gutaussehender Junge. Wahrscheinlich verkaufte sein Autorenphoto auf dem Umschlag mehr Bücher als die Inhalte. John holte sich ein Bier und setzte sich zu Gill.
„Dann erzähl mal: Womit kann ich helfen? Habe meine Quellen auf Standby.“
Gill informierte ihn über das Nötigste. John hatte noch nie etwas von Zaran gehört. „Aber ich kenne einen Galeriebesitzer, der keine Party, keinen Empfang, keinen Wichtigtuer und keinen Prominenten auslässt. Fahren wir zu ihm und fragen ihn. Er wird uns weiterbringen.“
„Noch was. Ich bin nackt. Da fühle ich mich unwohl.“
„Kein Problem. Ich hab’ was im Wagen.“
Sie verließen den „Blind Beggar“ und
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