Die Lucifer-Connection (German Edition)
oder Popstars erfahren. Es war die größte Beerdigung auf der Insel seit der Grabtragung von Winston Churchill. Eine gläserne Kutsche mit sechs vorgespannten Rappen war die Straßen heruntergedonnert, dahinter fuhren sechsundvierzig schwarze Limousinen, von St. Matthew’s Church in Bethnal Green zum Friedhof von Chingford. Bei der letzten Fahrt des Colonels standen mehr als fünfzigtausend Menschen am Wegesrand. Bei Reggie waren es weniger. Gill hatte mit John, Ducky und Roger die ganze Nacht durch auf Reggie gesoffen. Ducky betrieb ein Underground-Kaufhaus; Roger machte „so dies und das – was gerade anfällt“. Natürlich kannten sie die Krays persönlich aus dem Knast. Sie waren aber zu jung, um sie in Freiheit und bei der Arbeit erlebt zu haben. Im Knast hatte Reggie aus einem Königreich ein Imperium gemacht. Ronnies Begräbnis war in die Annalen des Eastend eingegangen – als der Tag, an dem mehr Alkohol umgesetzt wurde als 1966 nach der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft. Gill, John und die anderen hatten vergeblich versucht, diesen Rekord zu brechen.
John hatte auch einige Zeit im Knast verbracht. Er war Angehöriger einer linken Stadtguerilla gewesen. In Gegenwart von Reggie schämte er sich fast für sein bisschen Bau … Gill schwelgte in Erinnerungen. Ja, in London hatte er sich immer wohl gefühlt. Bevor er John traf, würde er einen langen, nostalgischen Spaziergang auf den Spuren der Krays durchs Eastend machen.
Er ließ sich an der Victoria Station absetzen und nahm die U-Bahn. Mit der Victoria Line fuhr er bis Tottenham Court Road und wechselte dann auf die Central Line, die ihn zur Station Bethnal Green brachte. Als Gill aus dem Untergrund ins Licht ging, atmete er tief durch: Eastend-Luft!
***
Hinter der City beginnt Eastend. Dort wird das bekannte Klischee-London zu einer anderen Welt. Wie Flüsse durch Dschungel ziehen sich die breiten Straßen – die Commercial Road, die Whitechapel Road oder Mile End Road – durch das Viertel. Auf ihnen kann der Klassenfeind in seiner Limousine hastig das Gebiet feindlicher Stämme durchqueren. Hinter den Hauptstraßen, an denen man Pubs und Kramläden findet, die eigentlich unter Denkmalschutz stehen müssten, öffnet sich ein Labyrinth schmaler Gassen voll unbequemer Wohnhäuser, Eckläden, kleiner Märkte, Eisenbahnbrücken und Abbruchhäuser. An manchen Ecken sieht es so aus, als würde die Nachkriegszeit nie enden. Man braucht schon einen Spezialstadtplan (oder „London A-Z“ in der dicken Ausgabe), um Bethnal Green, Whitechapel, Stepney oder Poplar verzeichnet zu finden. Die Arroganz der Westender lässt London fast auf jeder Karte hinter Liverpool Street Station enden.
Ein buntes Rassengemisch schiebt sich durch die nicht nur trostlosen Gassen. Das war schon immer so; das Eastend gehört den armen Einwanderern seit Jahrhunderten. Dickens und Marx trieben sich in diesen Straßen herum und fanden genug Stoff, um an einer gottgewollten Ordnung zu zweifeln. Es ist ein mythischer Ort: In den dunklen Gassen von Whitechapel hatte Jack the Ripper seine Opfer gesucht. Und wenn man noch vor ein paar Jahren nach Limehouse ging, hielt man unwillkürlich nach chinesischen Opiumhöhlen Ausschau und hätte sich nicht gewundert, wenn zwischen den maroden Lagerhäusern plötzlich Dr. Fu Manchu mit seinen Halsabschneidern aufgetaucht wäre. Aber auch das war vorbei. In letzter Zeit wurde teuer renoviert, bis fast zum Westend hin.
1902 hatte sich Jack London hier herumgetrieben. Der nietzscheanische Sozialist lebte in bester Wallraff-Manier mit den Ärmsten der Armen, um seine aufrüttelnde Sozialreportage „People of the Abyss“ zu schreiben. Das Eastend ist eine Welt für sich, die viele Londoner ihr Leben lang nicht betreten. Inmitten von Straßenzügen, die von alten Arbeiterhäusern gesäumt sind, erhebt sich manchmal völlig unmotiviert ein Siebziger-Jahre-Hochhaus. Man weiß nicht, was übler ist: die kleinen abgewrackten Klinkerhäuser, in denen es der Hausschwamm zur Ehrenmitgliedschaft in der Apothekerkammer gebracht hat, oder dünnwandige Menschensilos, die zu Kopfsprüngen aus dem zehnten Stockwerk einladen. Bei Sonnenschein kann man es hier gerade noch aushalten. Aber wenn sich im November schwere, schwarze Gewitterwolken tiefhängend von der Themse langsam nordwärts schieben und die Mile End Road in ein fast strahlend violettes Licht getaucht ist, gibt es wenig faszinierendere Flecken auf diesem Planeten – wenigstens, wenn man nicht
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