Die Lucifer Direktive
begeben sollte.« Sie schwieg einen Moment. »Laß mich dir eine Geschichte erzählen, Collegeboy, eine, die wahrscheinlich nicht in deinen Büchern steht. Es war vor vierzehn Jahren, da saß ein kleines deutsches Mädchen mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder zu Hause. Ihr Vater war Anarchist, ein Revolutionär, ein erklärter Gegner der Regierung. Er leitete Versammlungen, Protestaktionen und war bedeutend in der politischen Bewegung. Zweimal wurde er zusammengeschlagen. Einmal brach man ihm beide Arme. Das hat ihn weder geändert noch gehindert. Sie versuchten ihn zu töten, und scheiterten. Er tauchte unter. Dann öffnete seine Frau eines Nachts die Tür, und drei maskierte Männer drangen ein. Sie wollten wissen, wo sich ihr Mann aufhielt. Ihr Sohn und ihre Tochter hatten sich im Schrank versteckt. Dorthin gingen sie immer, wenn es klingelte, mußt du wissen. Eine wundervolle Art zu leben. Wie dem auch sei, die Frau verriet den Männern nichts, und so fesselte man sie an einen Stuhl und bediente sich des guten alten Schüreisens. Sie begannen mit ihren Brüsten und arbeiteten sich rasch bis zum Gesicht vor. Ihr Schreien war grauenhaft, bis man ihr einen Fetzen Stoff in den Mund steckte. Immer noch weigerte sie sich auszupacken. Einer der Männer hielt ihr das Schüreisen vor die Augen. Da sprang ihr elfjähriger Sohn aus dem Schrank und griff den Mann an, der das Folterwerkzeug hielt. Der Kampf dauerte nicht lange. Als sich der Sohn umdrehte, stach man ihm ein Messer in den Bauch. Ein anderer schoß der Mutter durch den Kopf. Die Tochter war vor Angst wie gelähmt. Sie rührte sich nicht und machte keinen Mucks. Die Männer verließen das Haus. Sie stieg aus dem Schrank, um das Gesicht ihrer Mutter an die Wände verspritzt vorzufinden und ihren Bruder eben noch lebendig genug, um in seinem eigenen Blut zu weinen. Er starb, als sie seinen Kopf in ihrem Schoß barg. Ich muß dir wohl nicht sagen, wer das Mädchen war, oder?«
»Nein.«
»Dann kannst du vielleicht verstehen.«
»Ich … versuche es.«
Gabriele wandte den Blick ab und wischte sich das Blut vom Gesicht. »Ich auch.«
Sie sah ihn wieder an. »Ich wollte nicht, daß diese Kinder aus Virginia starben, ebensowenig wie ich wollte, daß mein Bruder starb. Aber alle starben, weil es so sein sollte. Meine Jugendjahre habe ich bei Anarchisten verlebt, die heimatlose Waisen aufnahmen – ja, meinen Vater haben sie auch erwischt. Und wenn die nach Verwesung stinkenden Männer mich nicht vergewaltigten, sprachen sie meist mit mir über die gemeinsame Sache, und wie wichtig es doch wäre, an etwas zu glauben, für das zu kämpfen sich lohnte, wie mein Vater es getan hatte. Nur hatten sie nicht miterlebt, wie teuer dieser Kampf meine Mutter und meinen Bruder zu stehen gekommen war. Also war das einzige, was ich von ihnen lernte, daß man am besten an gar nichts glaubt und nur für sich selber kämpft. Ich lernte zu hassen, Collegeboy, und war verdammt gut darin, denn das war das einzige, was mich aufrecht hielt, wenn jeder Typ mit revolutionärer Gesinnung seinen Schwanz in mich steckte. Die schöne Tochter ihres toten Anführers. War wohl ein Pluspunkt, nehme ich an. Als ich siebzehn war, lief ich weg und klinkte mich bei ein paar Terroristen ein, die ihren Haß in der Baader-Meinhof-Bande zum Beruf machten.
Mir gefiel die Art, wie sie die Dinge sahen. Ihre Philosophie hatte was an sich, und ihre Kanonen boten mir ein Ventil für den Haß, der sich seit jener Nacht in mir aufgestaut hatte, als meine Mutter und mein Bruder dem Wohle des Staates geopfert wurden. Töten ist tatsächlich halb so schlimm, wenn man sich erst dran gewöhnt hat. Aber nach zehn Jahren auf dieser Schiene muß ich dich treffen, unschuldiger, versöhnender Dan Lennagin, der über Eigenschaften verfügt, die mich an das kleine Mädchen vor jener Nacht und an das nicht mehr so kleine Mädchen danach denken lassen. Durch dich habe ich mich anders gesehen und ich haßte, was ich sah.«
»Es tut mir leid«, sagte Dan und kämpfte dagegen an, daß sich ihm die Kehle zuschnürte. »Es tut mir wirklich leid.«
»Erspar dir das. Ich brauche dein Mitleid nicht, Collegeboy. Ich habe meine Unschuld mit zwölf verloren und seitdem mein Bestes getan, um auch den Rest zu verlieren. Ich habe eine weite Strecke zurückgelegt, um einen Grund dafür zu finden, jemand anderes zu sein und jemand anderes zu werden.«
»Darin unterscheiden wir uns«, erklärte Dan. »Ich möchte nur wieder der
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