Die Lucifer Direktive
vor.
Renaldo Blacks Handgelenk zuckte herum, und der Pfeil schnellte hervor und blieb im Hals des Ziels stecken. Black trug das Gerät wie andere eine Armbanduhr, und die Schleuder war ebenso unauffällig. Vor allem, wenn er sie brauchte.
Die Finger des Muskelmannes fanden nie bis zu seiner Pistole. Es erwischte ihn mitten in der Bewegung zwischen zwei Atemzügen, ohne daß er irgend etwas zu Ende bringen konnte. Er lebte gerade noch sieben Sekunden, lange genug, um zu spüren, wie sein Körper auf dem Kai aufschlug und dann ins kalte Wasser stürzte. Die Wellen schwappten über seine sterbenden Augen und verschlangen ihn dann.
Black schob die Skimaske vom Kopf, schüttelte seine blonden Haare und fuhr mit dem Beladen fort.
Tropez blickte von der immer noch schweigenden Gabriele zum braunen Umschlag.
»Ich sehe keinen Grund nachzuzählen«, sagte er, während er mit einem Blick die Banknoten abschätzte. »Ein gewisses Maß an Vertrauen ist selbst in unserer …«
Er sah auf, um in die schallgedämpfte Pistole zu starren, die plötzlich in Gabrieles Hand lag.
»O Gott, bitte nicht. Bitte!«
Sie hätte gleich feuern sollen, tat es aber nicht. Das war das erste Mal seit Samstagnacht, daß sie eine Waffe berührte, und der Nachgeschmack lastete noch immer bitter und schmutzig auf ihrer Seele.
»Ich habe eine Frau und fünf Kinder. Fünf Kinder! Bitte, ich flehe Sie an. Um ihretwillen. Bitte!«
Tropez sank auf die Knie, wirklich eine pathetische Figur, die man eigentlich leicht hätte umlegen sollen.
»Es wird nicht weh tun«, versprach Gabriele, aber diese Versicherung machte ihr die Aufgabe nicht leichter. Vielleicht, weil er die Kinder erwähnt hatte. Das erinnerte sie wieder an Alexandria. Trotz der Erinnerung an das Massaker, weiterzumorden schien unmöglich. Sie fragte sich, ob sie je wieder den Abzug ziehen konnte. »Es wird nicht weh tun.«
In Tropez' Augen blitzte ein Hoffnungsschimmer beim Klang der weiblichen Stimme. Er zitterte nicht mehr so stark, als ob eine Waffe in einer weiblichen Hand weniger bedrohlich wäre. Nur, eine Waffe kennt kein Geschlecht.
Gabriele spannte den Hahn.
Tropez schloß die Augen.
Gabriele konnte nicht abdrücken. Von Sekunde zu Sekunde wurde sie nachgiebiger, obwohl sie einen Grund suchte, diesen pathetischen Mann zu hassen. Sie fand aber keinen, der eine Kugel erfordert hätte. Ihre Finger zitterten.
»Denken Sie an meine Familie. Um Gottes Barmherzigkeit willen, Mademoiselle, denken Sie doch an meine Familie!« Tropez flehte sie an und nutzte den Augenblick ihres Zögerns.
Es waren nicht seine Worte, die ihr Handeln bestimmten. Die hatte sie in Wirklichkeit kaum wahrgenommen. Ihre Entscheidung basierte lediglich auf den Gegebenheiten. Selbstverteidigung war eine Sache, politische Hinrichtung vielleicht eine andere. Dies hier war noch etwas anderes. Nicht, daß sie nicht ans Töten gewöhnt gewesen wäre. Es kam ihr plötzlich nur brutaler und unnütz vor. Sie hielt die Pistole in die Luft und schoß zweimal. Zwei sanfte Plopps ertönten und verwehten mit dem Wind.
Tropez blickte zu ihr empor, verwirrt und verunsichert, wenn auch voller Hoffnung. Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Hauen Sie ab«, sagte sie. »Tauchen Sie für mindestens eine Woche unter. Halten Sie sich von Ihrer Familie fern, oder ich komme zurück und bringe Sie um. Kapiert?«
»Ja! Ja …! Danke, danke …«
Tropez sprang auf. Er wich mitleidheischend zurück, drehte sich um und rannte davon.
Sie richtete ihre Waffe auf seinen Rücken. Wie leicht es wäre, ihn jetzt abzuknallen, eine gesichtslose Gestalt, die in die Nacht floh. Aber vor dieser Gestalt befand sich ein Mann mit Familie, und um sie zu töten, mußte sie ihn auch töten.
Gabriele Lafontaine senkte die Waffe und machte sich auf den Weg zurück zum Kai. Es machte nichts, daß sie Tropez am Leben gelassen hatte, jedenfalls nicht im pragmatischen Sinne, weil er zu wenig wußte, um ihnen zu schaden oder ihren Plan zu durchkreuzen. Aber in anderer, viel wichtigerer Hinsicht waren die Folgen ihres Handelns verheerend. Sie hatte Mitleid empfunden. Schlimmer, sie hatte etwas empfunden.
Eine der Spielregeln, nach denen sie lebte, war verletzt worden, und sie hatte festgestellt, daß sie verwundbar war. Es ist etwas Seltsames mit den Regeln: wenn erst eine fällt, dann purzeln die anderen hinterher.
Gabriele verdrängte den Gedanken und beschleunigte ihren Schritt, um sich Renaldo Black anzuschließen.
14
Sparrow war
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