Die Ludwig-Verschwörung
Montepulciano. Er hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt. Für den Vorfall auf der Theresienwiese gab es vermutlich eine ganz einfache Erklärung. Wahrscheinlich handelte es sich bei den Kapuzenmännern um irgendwelche Halbstarke, die zufälligen Passanten einen Schrecken einjagen wollten. Und er war wie ein aufgescheuchtes Huhn auf und davon gerannt! Vermutlich lachten sich die Jungs noch immer tot über den alten Trottel in der Matschpfütze.
Steven schüttelte den Kopf über seine eigene Feigheit und wandte sich nun dem chiffrierten Buch aus dem Schatzkästchen zu. Glücklicherweise hatten weder Behälter noch Inhalt durch den Sturz auf der Theresienweise Schaden gelitten. Als Steven über den mit Elfenbeinschnitzereien verzierten Buchdeckel strich, beschlich ihn wieder das vage Gefühl, das Büchlein schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Eine Erinnerung wie ein verwaschenes Bild aus einer längst vergangenen Zeit. Doch als er in seinem Gedächtnis kramte, war da nichts. Nur ein leichtes Schwindelgefühl und ein seltsamer bitterer Geruch wie nach Verbranntem blieben zurück.
Mittlerweile war er sich sicher, dass es sich bei den merkwürdigen Hieroglyphen um eine Art Geheimschrift handeln musste, doch um welche, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Er hatte zwar irgendwann einmal in seinem Antiquariatsleben eine Abhandlung über Kryptologie im 19. Jahrhundert gelesen, doch soweit er sich erinnern konnte, wurden dabei meist bestimmte Schriftzeichen gegen andere ausgetauscht; manchmal spielten auch Zahlen eine Rolle. Die Zeichen vor ihm erinnerten aber eher an altgermanische Stabrunen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergaben. Steven setzte seine Brille auf und sah sich einige der ersten Zeichen genauer an.
Was in aller Welt sollte das sein? Kindergekrakel? Nur ganz selten tauchten zwischen den Zeichen herkömmliche Großbuchstaben auf, die jedoch keine vernünftigen Wörter bildeten. Was die merkwürdigen Buchstabenknäuel bedeuten sollten, blieb Steven ebenso ein Rätsel wie die Stabrunen. Er blätterte die ersten Seiten durch und zählte über den Text verteilt mindestens fünf dieser Buchstabenfolgen, weiter hinten folgten noch weitere. Die ersten drei lauteten:
QRCSOQNZO
NECAALAI
FHRT
Steven nahm einen tiefen Schluck Wein und betrachtete erneut den Titel auf der ersten Seite, während noch immer der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte.
Memorabilien des Theodor Marot, Assistent von Dr. Max Schleiß von Loewenfeld
Er beschloss, die rätselhaften Inschriften fürs Erste zu ignorieren, ging hinüber zu seinem Arbeitstisch und klappte den Laptop auf, der summend ansprang. Nachdem der Computer hochgefahren war, tippte er den Namen Theodor Marot ein, landete aber nur bei einem österreichischen Schwimmverein und auf einer Seite, die Baumaschinen in Kanada verkaufte. Die Fahndung nach Max Schleiß von Loewenfeld verlief erfolgreicher, die Suchmaschine spuckte annähernd 200 Treffer aus. Als Steven die ersten davon anklickte, begann sein Herz merklich schneller zu schlagen.
Aus den Einträgen ging hervor, dass Dr. Schleiß von Loewenfeld der offizielle Leibarzt König Ludwig II. gewesen war und auch zuvor schon dessen Vater König Maximilian II. behandelt hatte. Laut einem wissenschaftlichen Blog, den Steven nach einigem Suchen fand, galt Loewenfeld damals als einer der besten Ärzte Bayerns. Er durfte sich königlicher Geheimrat nennen und starb Ende des 19. Jahrhunderts mit fast 90 Jahren als reicher und geehrter Mann. Eine Schwarzweiß-Fotografie zeigte einen älteren Herrn mit Nickelbrille und nachdenklichem Gesichtsausdruck, den Rock akkurat geknöpft, einen steifen Zylinder in der Hand haltend. Der auffällige Kinnbart erinnerte an den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln.
Steven legte nun neben den flimmernden Laptop eines der Fotos aus dem Kästchen. Es war wie alle anderen ganz offensichtlich in einem Atelier gemacht worden, im Hintergrund erkannte man eine Säulenattrappe und eine Vorhangkordel. Der sitzende Jüngling an der Seite des Königs trug einen gut geschnittenen Anzug, sein dunkles Haar war zur Seite gekämmt; er hatte angenehm geschnittene, weiche Gesichtszüge, die ihn fast mädchenhaft erscheinen ließen. Mittlerweile war Steven überzeugt, dass der junge Mann auf dem Bild kein anderer als der Assistent des königlichen Leibarztes war.
Hallo, Theodor Marot, schön, deine Bekanntschaft zu machen. Was für eine Geschichte hast du uns zu erzählen?
Weitere Kostenlose Bücher