Die Ludwig-Verschwörung
einer Hochglanzbroschüre des oberbayerischen Fremdenverkehrsamts.
»Verdammt öde hier«, raunzte Sara und steckte sich eine neue Zigarette an. »Ich versteh wirklich nicht, wieso so viele Städter aufs Land ziehen wollen. Wegen dem Gestank nach Kuhscheiße wohl kaum.«
»Ludwig hat diese einsamen Gegenden geliebt«, erklang Onkel Lus tiefe Stimme vom Rücksitz. »München war ihm zuwider. Wenn’s nach ihm gegangen wär, hätte er vermutlich am liebsten mit ein paar Bergbauern in einem abgelegenen Gebirgstal gewohnt.«
Steven ertappte sich bei dem Gedanken, dass auch er gelegentlich solchen Träumen nachhing. Allerdings kamen bei ihm weder Kuhdung noch stinkende Misthaufen vor, von denen gerade wieder einer am Straßenrand auftauchte.
Er rieb sich die Augen und starrte wieder auf die Liste, die er anhand ihrer Decodierung der Rätselwörter in Marots Tagebuch angefertigt hatte. Dreizehn Wörter hatten sie mit dem Lösungswort MARIA bislang entschlüsseln können. Allesamt waren es ganz offensichtlich Gedichttitel, wobei Steven einige der Titel überhaupt nichts sagten. Andere wiederum fanden sich in jedem Schulbuch. Er hatte sämtliche Gedichte mit ihren Verfassern der Reihe nach aufgeschrieben. Trotzdem wurde er daraus nicht schlau.
Erlkönig (Johann Wolfgang von Goethe)
Belsazar (Heinrich Heine)
Thal?
Zauberin?
Lorelei (Heinrich Heine)
Winsperg?
Fluch? (vielleicht › Des Sängers Fluch‹
von Ludwig Uhland?)
Ring? (vielleicht › Der Ring des Polykrates‹
von Friedrich Schiller?)
Siegerich?
Taucher (Friedrich Schiller)
Der Fischer (Goethe)
Legende?
Ballade?
»Ich weiß wirklich nicht, was uns Theodor Marot mit diesen Gedichten sagen wollte«, murmelte er. »Die, die ich kenne, stammen alle aus der deutschen Romantik und Klassik. Und sie beschwören das Mittelalter oder andere ferne Zeiten. Aber sonst kann ich keine Gemeinsamkeiten feststellen.«
»Vermutlich hätte Ludwig gerne in so einem Gedicht gelebt«, sagte Sara. »Oder in einer dröhnenden Oper von Richard Wagner. Wir können nur hoffen, dass wir bald einen weiteren Hinweis finden.« Sie deutete auf den Laptop, der sich in einer Damenhandtasche zwischen Stevens Füßen befand. »Ich habe gestern Nacht übrigens noch sämtliche weitere Rätselwörter des Tagebuchs in meinen Laptop eingegeben. Sehen Sie selbst.«
IDT, G, NFTQM, WFIFBTQT, GQT, IDT, WQI, ID, WFIFBGQTQ, WFT, IFGQMT, IFI, IQT, J, JG, JT, W, JTI, JG, JG, J, JG, JG, JG, JG, IT
»Eines ist dabei interessant«, sagte sie nachdenklich. »Die Wörter werden immer kürzer. Am Ende des Tagebuchs bestehen sie meist nur noch aus einem oder zwei Buchstaben.«
»Und wenn wir einfach mal dieses Hinweiswort ›KOENIG‹ als Schlüssel versuchen?«, fragte Steven zaghaft, doch Sara winkte ab.
»Hab ich bereits probiert. Außerdem die üblichen Verdächtigen wie ›LUDWIG‹, ›REX‹ oder ›ROI‹. Bringt alles nichts. Es muss etwas sein, das nicht so nahe liegt.««
Steven seufzte und blickte nach vorne, wo zwischen den Hügeln nun deutlich der Chiemsee schimmerte. Aus der Nähe betrachtet erinnerte er beinahe an ein Meer in den Alpen.
»Schauen Sie, man kann tatsächlich schon die Herreninsel erkennen!«, brüllte ihm Onkel Lu von hinten ins Ohr und unterbrach damit Stevens Grübeleien. »Die kleinere dahinter ist die Fraueninsel mit ihrem Kloster. Was für ein malerischer Ort für ein Schloss!«
»Und was für ein gottverdammter Touristenmagnet.« Sara deutete auf ein kleines vollbesetztes Fährschiff, das zwischen den Inseln und einem Hafen am Festland hin- und herschipperte. »Hoffentlich müssen wir nicht zu lange anstehen. Ihre Bücher bleiben wohl besser im Auto. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie die eigenhändig über die Insel schleppen wollen.«
Albert Zöller zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Lassen Sie mich nur machen. Sie werden es nicht bereuen, den guten alten Onkel Lu auf diese Rätselreise mitgenommen zu haben.«
Eine Viertelstunde später hatten sie den Mini unten am Hafen geparkt.
An unzähligen Stegen dümpelten kleine Ruderboote, auf denen Fischer ihre Netze flickten. Rechts daneben befand sich eine vom Regen ausgebleichte Mole, an der ein Schaufelraddampfer pfeifend auf seine Abfahrt wartete. Ein weiteres Tuten ertönte. Als Steven sich umblickte, sah er plötzlich hinter den Bootshäusern eine schnaufende Dampflokomotive mit grünen Waggons entlangzuckeln, ganz so, als wäre sie direkt aus dem 19. Jahrhundert hierhergefahren.
»Kneifen Sie
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