Die Lüge
Herzog daran vorbeigefahren war, war ihr die Tafel neben der Eingangstür aufgefallen, auf der mit Kreide einige Gerichte verzeichnet waren. Vom Wagen aus war die Tafel nie zu lesen gewesen. Als sie eine Stunde später auf die Tafel zuging, bedauerte sie ihren Vorschlag.
Der rote Alfa wirkte auf dem verlassenen Sandplatz nebendem Gebäude wie ein Fanal. Sie war nahe daran, umzukehren. Aber dann trat sie doch ein, mit der Handtasche unter dem Arm und der Computertasche in der Hand. Außer dem Laptop befanden sich das Netzteil sowie der Umschlag mit den Ausdrucken und der Bandkopie vom Diktiergerät in der Tasche.
Die Gaststube machte einen rustikal-gemütlichen Eindruck und war leer. Ein Glöckchen schlug an, als die Tür hinter ihr zufiel. Hinter dem Tresen befand sich eine offene Schiebetür, die in eine große, blanke Küche führte. Eine dralle Person erschien und betrachtete sie von Kopf bis Fuß, als suche sie nach dem einen Horn. Vielleicht hatte sie ein wenig zu dick aufgetragen mit den Perlen und der Nerzjacke. Aber der Frau hinter dem Tresen war sie keine Erklärungen schuldig, und für Dieter Lasko konnte es gar nicht dick genug aufgetragen sein.
Es war ein ungeheures Risiko, sich ausgerechnet an Dieter zu wenden. Nur war es bei weitem nicht so groß wie alles, was sie selbst hätte unternehmen können, das war ihr inzwischen klar. Es ging auch nicht darum, dass Dieter ihr half. Nur ihrer Mutter. Für all die Stunden, die sie mit Kitschromanen neben dem Bett seiner Mutter verbracht hatte. Wen sonst hätte sie ins Seniorenwohnheim schicken und ihre Mutter beruhigen lassen können? «Kein Grund zur Verzweiflung. Du darfst es keinem Menschen erzählen, aber Susanne geht es gut.»
Dieter kam nur acht Minuten später. Sie saß bereits vor einem Kaffee und hatte einen überbackenen Champignontoast in Auftrag gegeben. Dass sie überhaupt daran denken konnte, eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen, hätte sie wundern müssen. Aber für Verwunderung war keine Zeit und auch kein Platz in ihrem Hirn. Dort türmte sich nur noch ein Berg Hoffnung, es irgendwie zu schaffen, sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln durch ein fremdes Leben zu mogeln.
Im Halbdunkel an einem der hinteren Tische war sie nicht auf Anhieb zu sehen. Sie hatte die Wirtin eigens gebeten, die Lampe über dem Tisch auszumachen. Mit einem Achselzucken war die Frau der Bitte nachgekommen. Offenbar durfte man unsinnige Wünsche äußern, wenn man eine Nerzjacke und ein Perlencollier trug und einen P vier mit drei Gigahertz vor sich aufbaute.
Sie hätte Dieter fast nicht wieder erkannt. Er erschien in einer grauen Stoffhose mit Bügelfalte, passendem Sakko, Hemd und Krawatte, exakt geföhnter Frisur und so glatter brauner Haut, als käme er geradewegs aus der Karibik. Sie kannte ihn nur in abgewetzten Jeans und sackartigen Pullovern, mit fahlem Teint, Stoppelhaarschnitt und Dreitagebart.
Wie erwartet sah er sie nicht sofort und wandte sich an die Wirtin, die wieder durch die Schiebetür hinter den Tresen trat, als das Glöckchen bimmelte. Was er sagte, verstand sie nicht. Die Wirtin deutete in ihre Richtung. Er spähte ins Halbdunkel, setzte ein höfliches Lächeln in die Bräune und kam näher. Nach zwei, drei Schritten stockte er.
Während der Fahrt hatte sie sich seine Reaktion auf ihr Gesicht in tausend verschiedenen Variationen ausgemalt. Nur hätte sie es nie gewagt, eine Vorhersage zu treffen – nicht bei dem Dieter, den sie kannte. Einem Mann, der in schon fanatischer Weise auf Recht, Gesetz, Ordnung, Menschenwürde und weiß der Teufel was sonst noch pochte und dabei nichts anderes im Sinn hatte als eine gute Story oder ein neues Buch. Und er kannte sie auch noch aus ihren Zeiten als Bankkauffrau. Da war sie zwar nie so teuer, aber immer schick gekleidet und sehr gepflegt gewesen.
Ein paar quälend lange und bange Sekunden vergingen. Er hatte sie erkannt. Oder nicht? Drei Jahre nach der Scheidung, davor sechs Jahre, in denen er sie so häufig gesehen hatte wie ein Kind der niederrheinischen Tiefebene einen selbst gebautenSchneemann, und nach dem, was man ihm am vergangenen Nachmittag zugemutet hatte, schien er nicht sicher, ob er seinen Augen trauen durfte. Sein Mienenspiel war spektakulär. Er stand da wie eine Wachsfigur unter praller Sonne. Als er endlich die letzten Schritte schaffte, erweckte es den Anschein, er könne zerfließen. Seine Sprache tat das. «Frau … eh … Trenkler?»
Sie hatte ihn noch nie
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