Die Lüge
Niedenhoff ein weißer Mercedes vor. Der Dunkelhaarige, vermutlich Frederik, stieg aus und stand Sekunden später vor ihrer Haustür. Wie es kam, wusste sie nicht, sie wollte ihm nicht öffnen, stand ihm jedoch plötzlich gegenüber. «Grüß dich», sagte er. «Ich wollte nur rasch fragen, ob ihr die Konzertkarten bekommen habt.»
Vermutlich hätte man sich bedanken müssen. Sie holte das nach. Er lächelte und meinte: «Dann sehen wir uns in Bonn.»
«Leider nicht», erklärte sie. «Ich war jemandem einen Gefallen schuldig und habe die Karten verschenkt.»
«Uff», machte er. «Das hättest du besser früher gesagt. Ich weiß nicht, ob wir noch …» Statt den Satz zu beenden, sagte er: «Jacques ist in Paris. Soll ich ihn anrufen, oder willst du selbst mit ihm sprechen?»
Darauf konnte sie beim besten Willen nicht sofort antworten. Jacques! War in Paris! «Wo kann ich ihn denn erreichen?», fragte sie nach einigen Sekunden.
«Im Georges Cinque», sagte Frederik ein wenig verständnislos, als hätte ihr das bestens bekannt sein müssen. «Aber im Moment wird er nicht in der Suite sein. Versuch es in einer halben Stunde. Besser in einer Stunde. Dann ist die Probe bestimmt zu Ende.»
Sie bedankte sich mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es nicht allzu steif ausfiel. Die nächsten zehn Minuten verbrachte sie am Telefon und grübelte dabei bereits, wie sie Nadia den großzügigen Umgang mit den Kreditkarten erklären sollte. Zurkeulens Auftritt bei Hardenberg wog nicht mehr gar so schwer und schien einiges zu erklären. Ramons Unterhaltung mit Nadia hatte vermutlich Spuren hinterlassen, die Michael nicht zu Gesicht bekommen sollte. Durchaus möglich, dass Nadia sich zwangsläufig entschlossen hatte, ihre Blessuren in Paris von Jacques pflegen zu lassen.
Es gestaltete sich nicht halb so schwierig wie erwartet, über die Auslandsauskunft die Telefonnummer vom Georges Cinque zu erfragen. Man erkundigte sich nicht mal nach der genauen Adresse. Paris reichte völlig. Dann sprach sie mit einem Portier oder Empfangschef. Ihr «Parlez-vous allemand?» quittierte er mit einem ausgezeichneten Deutsch. Ohne zu zögern, gab er die Telefonnummer der Suite durch, in der Jacques Niedenhoff sich leider zurzeit nicht aufhielt. Es hob auch sonst niemand ab.
Sie wollte es in einer halben Stunde noch einmal versuchen. Doch schon zwanzig Minuten später kam Michael heim. Er grüßte mit einem knappen Hallo und musste sich selbst dafür zweimal räuspern. Dann holte er ein Handtuch, ging in den Keller und drehte ein paar Runden im Pool. Sie horchte auf das anfangs heftige, später gleichmäßige Plätschern und wagte den zweiten Versuch. Jacques war immer noch nicht in seiner Suite.
Und inzwischen fragte sie sich auch, ob Frederik als Freund, Hausgenosse, Untermieter oder sonst was nicht eingeweiht wäre, wenn Nadia bei Jacques Zuflucht gesucht hätte. Und warum Nadia nicht im Laufe des Montags aus Paris angerufen hatte. Sie wollte es trotzdem eine halbe Stunde später noch einmal versuchen. Doch nach einer Viertelstunde tauchteMichael neben dem Schreibtisch auf, nackt und tropfnass, mit dem Handtuch sein Haar rubbelnd.
Er wirkte unsicher, nicht mehr wie der Mann, der erst am vergangenen Abend eine Bilanz des Schreckens aufgemacht hatte. «Phil ist an der Sorbonne», begann er zögernd. «Sie hatten gestern gefeiert. Er hat nicht auf die Zeit geachtet. Es tat ihm Leid, dass er uns aus dem Schlaf gerissen hat.»
An der Sorbonne! Das klang nach Küste und Urlaub. So klang auch das, was er sonst noch sagte. «Ich soll dir einen schönen Gruß ausrichten, auch von Pamela.» Ehe er den Rest aussprechen konnte, musste er sich wieder mehrfach räuspern. «Ob wir Lust hätten, für ein paar Tage rüberzukommen.»
«Deine Lust kann ich nicht beurteilen», sagte sie und zwang sich, ihm dabei ins Gesicht zu schauen. Er stand da wie die Verkörperung aller Sehnsüchte. «Ich habe keine.»
Er atmete tief durch. «Ich dachte ja nur …»
Unvermittelt wurde sie heftig. «Was du denkst, hast du mir gestern Abend klar und deutlich zu verstehen gegeben! Was willst du mit einer Frau, die dich meist als Fußabtreter benutzt, an der Sorbonne? Verschwinde, das hier ist ein Arbeitszimmer und kein Stripteaselokal. Wenn du noch lange hier herumstehst, muss ich dich trocken küssen, ob es dir gefällt oder nicht.»
«Was?» Er war sichtlich verblüfft. Und sie schämte sich. Es war gar nicht ihre Art, dermaßen deutlich auszusprechen,
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