Die Lüge
zog.
«Komm her, Pascal!», rief Andrea.
«Komm her, Pascal», flüsterte sie. Und er kam zögernd die letzten Schritte. Sie hob ihn auf ihren Schoß, zeigte ihm das Foto in der Zeitung und fragte ihn, was sie nun tun solle. Angesichts der Tatsache, dass Zurkeulen und Ramon dann in der nächsten Ausgabe der Zeitung lesen könnten, Susanne Lasko erfreue sich nach wie vor bester Gesundheit, verbot es sich von selbst, zur Polizei zu fahren und zu erklären: «Da liegt ein Irrtum vor.» Daraus ergab sich, dass sie ab sofort drei Jahre älter und verheiratet war mit einem Mann, der die Scheidung wollte.
Andrea wurde aufmerksam, kam in die Küche, beugte sich über den Artikel, betrachtete das Foto und stellte fest: «Die sieht Ihnen ähnlich, finden Sie nicht?»
«Nein, finde ich überhaupt nicht», sagte sie und widmete sich wieder dem Kind auf ihrem Schoß, erzählte Pascal, dass sie ein Baby bekäme. Über diese Erklärung kam der Gedankenfluss wieder in Gang. Mutter! Dass Nadia Trenkler es sich nicht leisten konnte, nach Susanne Laskos Tod Kontakt zu deren Mutter aufzunehmen, spielte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle. Was zählte, waren die Tränen, die Trauer, diese grauenhafte Nachricht, die einer Blinden das letzte Stückchen Boden unter den Füßen entzogen haben musste. Sie musstesofort etwas unternehmen, konnte aber nicht vom Stuhl aufstehen, weil sie ein Kind auf dem Schoß hielt.
Andrea lächelte ungläubig und erkundigte sich: «Tatsächlich? Was machen Sie denn nun? Wollen Sie Wenning verklagen?»
«Nein, warum?» Sie wusste doch nicht mal, wer Wenning war.
«Was sagt denn Ihr Mann dazu?», fragte Andrea.
«Das weiß ich nicht», sagte sie und hatte das Gefühl, überhaupt nichts zu wissen – bis auf diese eine Ausnahme. Susanne Lasko war tot, höchstwahrscheinlich an einer Unterhaltung mit Ramon gestorben.
Mit diesem Wissen verging der Vormittag wie in Trance unter einem Blitzlichtgewitter, das einzelne Ausschnitte eines großen Ganzen für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Dunkeln holte. Nadia mit der Behauptung, Ersatzpapiere zu haben. Nadia mit der Beteuerung, Philipp habe keinen Schlüssel für ihre Wohnung. Zurkeulen in der Bank und seine nachdenkliche Stimme in Hardenbergs Büro. Andrea mit einem Reinigungsmittel vor dem Backofen. Das Telefon im Büro der Confiserie, Nadias zerhackte Sätze. Andrea mit einem Smokinghemd, aus dem ein Fleck nicht rausgegangen war, und mit der Frage: «Was ist morgen?»
«Mittwoch, glaube ich», sagte sie und schreckte hoch. Es war kurz vor zwei. Sie saß im Morgenmantel am Küchentisch vor einer mit Kekskrümeln und Schokoladenschlieren überzogenen Zeitung. Auf dem Fußboden spielte Pascal mit den Schnipseln der FAZ und einem Rührbesen. Susanne Lasko war tot, Jacques in Paris, der Chopin auf dem Flügel unverändert kompliziert. Und tauchen konnte sie auch nicht!
«Soll ich nun morgen kommen oder nicht?», fragte Andrea.
Sie atmete tief durch und entschied: «Natürlich. KommenSie wie gewohnt. Wir lassen das Wasser aus dem Pool. Ich finde, das Becken muss mal gründlich geschrubbt werden.»
Andrea zuckte nur mit den Achseln, nahm ihrem Söhnchen den Rührbesen ab, raffte die Zeitungsschnitzel zusammen, stopfte sie in den Mülleimer und verschwand. Sie saß noch eine Weile am Tisch und betrachtete die Zeitung. Unter den Schokoladenschlieren war ihr früheres Gesicht kaum noch zu erkennen.
Eine Stunde später hatte sie geduscht, ihrem Teint mit viel Aufwand und Kosmetika eine gesunde Ebenmäßigkeit verliehen und Nadias Frisur mit der gleichen Perfektion geföhnt wie der Meister persönlich. Jeder Handgriff saß, das Hirn arbeitete messerscharf unter der Gewissheit, dass alles, was ab sofort schief ging, ganz allein ihr Problem war.
Im Ankleidezimmer entschied sie sich für den Hosenanzug, den Nadia getragen hatte, als sie von der Straßenecke aus mit Philipp Hardenberg telefonierte. Dazu wählte sie einen hellbraunen Pullover und Slipper im gleichen Farbton. Zum ersten Mal griff sie auch in die lederbezogene Kassette mit Nadias Schmuck. Sie nahm ein doppelreihiges Perlencollier, das hervorragend zu dem Pullover passte, schob sich einen Ring mit einer großen Perle an die linke Hand und tauschte die Brillantohrstecker gegen baumelnde Perlen aus. Dann ging sie ins Arbeitszimmer und traf als Nadia Trenkler telefonisch eine Verabredung.
Der Gasthof, den sie als Treffpunkt vorschlug, lag einsam an der Sonntagsstrecke. Jedes Mal, wenn sie mit Johannes
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