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Die Luft, die du atmest

Die Luft, die du atmest

Titel: Die Luft, die du atmest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Buckley
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machte sich wieder an die Arbeit.
    Vielleicht verstand Heyjin wirklich kein Englisch.
    Ann beobachtete sie einen Augenblick. Sie schien die Aufgabe verstanden zu haben. Sie tauchte ihr Wattestäbchen in die Farbe und nahm gerade so viel auf die Spitze, wie Ann gezeigt hatte. Dann balancierte sie das Stäbchen vorsichtig zu ihrem Blatt und malte mit festem Druck einen sauberen Punkt. Doch ein Blick auf Heyjins Bild ließ vermuten, dass sie den Sinn der Sache vielleicht doch nicht begriffen hatte. Das ganze Blatt war mit gleichförmigen braunen Punkten bedeckt, die auf dem schwarzen Hintergrund kaum zu sehen waren. Eine Geschichte konnte Ann darin nicht erkennen.
    Vielleicht sollte sie ihr vorschlagen, es mit einer anderen Farbe zu versuchen. Aber das Mädchen wirkte so zufrieden. Ann beschloss, sie in Ruhe zu lassen. Kunst hatte mit Selbstausdruck zu tun, und Heyjin schien auf jeden Fall etwas auszudrücken. Ann hatte bloß keine Ahnung, was.
    Als sie aufblickte, sah sie, dass Maddie sie anschaute. «Was für eine Geschichte malst du, mein Schatz?»
    Maddie legte schützend den Arm über das Bild. «Du darfst erst gucken, wenn ich fertig bin.»
    Doch Ann hatte genug gesehen, um es zu erraten: eine glückliche Familie. In der Mitte des Blatts prangten die Symbole für Vater, Mutter und zwei Kinder. Über ihnen wölbte sich ein großer Bogen. War das Maddies Vorstellung von der Zukunft?Dass nach den Stürmen des letzten Jahres ein Regenbogen am Himmel erschien? Doch leider nahm nicht jede Geschichte ein gutes Ende.
    «Mrs.   Brooks?», meldete sich Jimmy. «Ich habe das Symbol für Lagerfeuer vergessen.»
    Ann schluckte ihren Kummer herunter und fragte die Klasse: «Wer hat das behalten?»
    Hannah wedelte mit dem Arm. «Ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte.»
    «Sehr gut, Hannah.» Anne ging an die Tafel und malte mit Kreide die Striche für Regen, die Wellenlinien für Flüsse, das Rechteck für Mann und den Halbkreis für Frau. «Vergesst nicht, wie wichtig Farbe ist. Die australischen Ureinwohner haben mit Farben verschiedene Stimmungen ausgedrückt.» Sie malte die Zeichen für die Honigtopfameise und das Känguru. «Rot steht für Glück   –»
    Eine Sirene heulte auf und zerriss die Ruhe. Überrascht wandte Ann sich von der Tafel ab. Soweit sie wusste, war kein Probealarm angemeldet.
    Ein paar Kinder standen auf und schoben ihre Stühle nach hinten. Andere stöhnten, ohne sich beim Malen stören zu lassen.
    «Kommt, Kinder.» Ann klatschte in die Hände. «Wer führt unsere Reihe an?»
    Steven winkte. «Ich!»
    «Du kommst hierher an die Tür. Alle anderen stellen sich hinter Steve auf.»
    «Aber ich bin noch nicht fertig», sagte Jodi.
    «Lass es einfach so liegen, Jodi. Komm jetzt.»
    «Ich muss bloß noch diese eine Ecke fertig machen.»
    «Macht nichts. Komm jetzt. Auf geht’s.»
    Jodi schob ihren Stuhl zurück und gesellte sich missmutig zuden anderen Kindern, die schon aufgereiht an der Tür standen. Nur Heyjin saß noch auf ihrem Stuhl und sah sich mit großen Augen um. Ob sie überhaupt verstand, was los war?
    «Keine Angst, Heyjin. Das ist ein Feueralarm.» Ann streckte ihr die Hand entgegen. Selbst wenn sie die Sprache nicht verstand, konnte sie der Geste folgen. «Wir müssen gehen.»
    Heyjin ließ sich zum Aufstehen bewegen.
    «Du gehst mit Maddie, okay?» Ann schob sie in die Reihe und ging nach vorne. «Gut, Steve. Es kann losgehen.»
    Sie marschierten nach draußen auf den Spielplatz. Überall standen Grüppchen aufgeregt plappernder Kinder, und aus dem Gebäude strömten immer mehr herbei. Ein kleines Mädchen stolperte. Anne half ihr auf und führte ihre Klasse zu den Schaukeln.
    «Mir ist kalt», jammerte Jodi. «Ich brauche meinen Mantel.»
    Der hing im Klassenzimmer am Haken. «Stampf mit den Beinen», sagte Ann. «Denk an was Warmes.» Sie schritt die Reihe frierender Kinder ab und zählte.
    Ein paar Meter weiter zählte eine andere Lehrerin ihre Schar. «Diesmal ist es ernst», sagte sie leise.
    Ann warf ihr einen Blick zu. «Was ist passiert?»
    Ihre Kollegin verdrehte die Augen. «Irgendjemand wollte den Viertklässlern zeigen, wie ein Vulkan funktioniert, und hat dabei das Physiklabor in die Luft gejagt.»
    «O mein Gott», jammerte Jodi. «Wir werden ewig hier draußen rumstehen.»
    «Nein, so lange bestimmt nicht.» Abwesend tätschelte Ann Jodis Schulter. Sie hatte neunzehn Kinder gezählt. Das kam nicht hin. In Maddies Klasse waren zwanzig Schüler. Sie zählte noch

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