Die Luft, die du atmest
Tür.
Sie hörte von irgendwoher ein Plätschern. Seltsam. Ann ging in die Küche und sah, dass der Wasserhahn lief. Sie wusste genau, dass sie das Wasser nicht hatte laufen lassen. Sie war überhaupt nicht an der Spüle gewesen. Oder vielleicht doch? Eine andere Erklärung gab es nicht. Sie machte den Hahn zu. Es wurde merkwürdig still im Haus. Das mussten ihre Nerven sein. Die ganze Aufregung mit Maddie. Sie hatten zum ersten Mal seit fast zwei Monaten das Haus verlassen. Kein Wunder, dass es seltsam war, wieder hier zu sein.
Zuerst die Sachen für Maddie, dann wollte sie nach Peter sehen. Er musste etwas trinken, und vielleicht konnte er endlich auch Ibuprofen bei sich behalten. Wer weiß, vielleicht hatte er sogar Appetit. Sie sollte versuchen, ihm noch irgendwas Sättigendes einzuflößen, bevor sie abfuhren. Suppe vielleicht. Die heiße Flüssigkeit würde seinem Hals guttun.
Sie musste so bald wie möglich nach ihm sehen und schauen, ob das Fieber endlich nachließ. Sie ging an die Treppe und legte die Hand aufs Geländer. Doch dann stockte sie. Irgendetwas stimmte nicht. Sie schaute sich um. Vor der Haustür lag etwas. Ein Mensch. Im grünen Schlafanzug, mit langen, schlanken Füßen. Und er rührte sich nicht.
Peter.
Mit wenigen Schritten war sie bei ihm. Sie ließ sich auf die Knie nieder und nahm ihn bei den Schultern. Durch dasFlanell fühlte sie die Sehnen in seinen Armen. Er war so dünn geworden. «Mein Schatz, du hättest nicht aufstehen dürfen.»
Er sackte unter ihren Händen zusammen. «Komm, ich helf dir.»
Sein Kopf rollte zur Seite. Mit halbgeöffneten Augen sah er sie an.
Sie gefror innerlich. In ihrem Hals breitete sich ein Kloß aus. Sie berührte seine Wange. Die Haut war wie Wachs. Von einem seltsamen Blassgelb. Seine Augen waren blicklos und ohne Licht.
«Peter?», flüsterte sie, aber sie wusste, dass er nicht antworten würde. Wo immer er sein mochte, Peter war nicht mehr in seinem Körper. Er war nicht mehr da.
Um sie versank die Welt. Sie begann zu zittern.
Nein.
Sie presste beide Hände gegen seine Wangen. «Komm zurück.»
Seine Lippen fielen auseinander.
«Peter! Du darfst mich nicht verlassen. Peter!»
Sie klopfte ihm auf die Wangen, schüttelte ihn, dass sein Kopf nach hinten sackte.
«Peter!»
Schluchzend schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn so fest an sich, wie sie konnte. So als sollte ihr Herz für sie beide schlagen. «Bitte, bitte.» Sie hatte das hier schon einmal erlebt, mit William. Auch damals war es zu spät gewesen.
Draußen stieß Barney ein lautes Heulen aus.
NEUNUNDVIERZIG
«Warum ist er runtergegangen?» Maddie stand mit Kate oben an der Treppe. Unten lag Peter. Näher hatte Ann sie nicht herangelassen. Sie hatte ihn mit der Decke aus seinem Bett zugedeckt. Er hatte so elend und kalt gewirkt. So allein. Das hatte sie nicht ertragen. Im Schlafzimmer hinter ihnen jammerte Jacob leise vor sich hin.
«Vielleicht hat er uns gesucht», sagte Kate. «Mom, wir haben ihn ganz alleine gelassen.»
«Ja, ich weiß.»
Er war ganz allein gewesen. Hatte er gelitten? Hatte er Angst gehabt? Ihre Töchter schmiegten sich an sie.
Schließlich schickte sie die beiden zu Jacob ins Zimmer. Sie würden nicht mehr unten im Wohnzimmer schlafen. Dort würden zu viele Erinnerungen lasten. Jacob war auf seinem kleinen Lager auf dem Boden eingeschlafen. Ann sah noch einmal nach ihm, dann ging sie ins Bett und hielt die Decken hoch. Die Mädchen kletterten von beiden Seiten zu ihr und drängten sich an sie. Ann hielt ihre kalten Hände fest. An der Decke sammelten sich Schatten.
Kate murmelte: «Ich will nie wieder jemand lieben.»
«Ach, mein Schatz.» Ann streichelte ihre Handfläche mit dem Daumen.
«Wie konnte er uns verlassen?»
«Das wollte er doch nicht.»
«Wieso bist du nicht krank geworden?», fragte Maddie. «Und wieso sind wir beide nicht krank geworden?»
«Das weiß ich nicht.»
«Stirbst du jetzt auch?» Maddies Atem strömte weich über Anns Wange.
«Nein.» Doch eigentlich fühlte sie sich schon tot.
Mit piepsiger Stimme fuhr Maddie fort: «Und wir, Mommy? Müssen wir auch sterben?»
«Alle müssen sterben.» Kate entzog Ann ihre Hand und drehte sich auf die Seite, mit abgewandtem Gesicht.
So war es.
Anns Augen wanderten an die Decke.
Alle müssen sterben.
Stumm lag sie im Dunkeln und lauschte dem Atem ihrer Kinder. Sie ließ ihn direkt in ihr Herz strömen.
Der Mond stand tief zwischen treibenden Wolken.
Ann kniete sich ins
Weitere Kostenlose Bücher