Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
Vom Netzwerk:
seine Gefühle sich im Laufe der einstündigen Einführungsvorlesung verändert hatten, überrascht und etwas amüsiert, wie unverblümt und aufreizend sie seinen Blick erwiderte. Er verkniff sich ein Lachen und dachte, wie nützlich seine Arbeit doch war, wenn es um seine eheliche Treue ging, so brüchig diese Ehe auch sein mochte. Allerdings wich er erneut dem Blick der Künstlerin aus.
    Nun nahm er die Anwesenheitsliste vom Tisch. Er setzte sich eine Hornbrille auf die Nase und begann, die Namen aufzurufen. Ihrer war der vorletzte auf der Liste. Im selben Moment,
als er ihn vorlas – »Adeline Sturmer« – und sie mit einem »Einfach Addie, bitte« antwortete, trillerte eine Walddrossel von den Ästen einer uralten Eiche vor dem offenen Fenster. Alle Köpfe drehten sich, und Tom Kavanagh lachte.
    »Das ist eine Walddrossel, Addie Sturmer. Ist das eine Freundin von Ihnen?«, fragte er, und als sie ihn ansah und lächelte, sich dann wieder dem Fenster zuwandte, sichtlich hoffend, den Vogel noch einmal zu hören, gab es keinen Zweifel: Da war ein Ziehen in seiner Brust, und es war ein wohliger Schmerz, von der Art, wie er ihn früher in seinen einsamen Tagen in den Hügeln von Donegal empfunden hatte.
    Er vergaß, den letzten Namen auf der Liste aufzurufen, den eines ängstlichen jungen Mannes in der hintersten Reihe, der bis zum Ende der Vorlesung wartete und sich dann dem Professor näherte und dafür sorgte, dass seine Anwesenheit notiert wurde.

Vier
    Als er den Mund aufmachte und sprach und sie zum ersten Mal das weiche Singen seines irischen Akzents hörte, wusste sie nicht, was sie tun oder wohin sie sich wenden sollte. Sie konnte ihre Freude kaum bändigen, das Gefühl, dass etwas in ihrem Inneren emporsprudelte. Und um sich davon abzuhalten, unvermittelt laut zu singen oder zu jauchzen oder hysterisch zu kichern, schnappte sie sich ihren Bleistift und fing an zu zeichnen.
    Dieser alberne, muffige alte Uhu. Ohne nachzudenken wusste Addie, dass er eine Art Scherz sein sollte. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem echten Vogel.
    Also zeichnete sie ihn, ausreichend wirklichkeitsgetreu, was den Umriss und die augenfälligen Details betraf, den großen Kopf mit den Pinselohren, die Augen mit den dunklen Ringen darum, den weißen Latz mit den Streifen darunter. Doch sie gab ihm ein erkennbares, wenn auch karikiertes menschliches Gesicht.
    »Dr. Curtis?«, flüsterte Lou und beugte sich über das Blatt, als die Froschaugen unter der Halbglatze fast fertig waren. Addie nickte, und dann schrieb Lou auf eine Seite in ihrem eigenen Heft: »Ich würde lieber IHN zeichnen« und malte einen Pfeil Richtung Tafel darunter.

    Addie lächelte und wandte sich wieder den Schatten unter den Uhuaugen zu, bis Lou sie in den Arm kniff und noch einmal auf ihr Heft zeigte, wo sie ein weiteres Wort hinzugefügt hatte: »Nackt.«
    Addie verdrehte die Augen, ihre Standardreaktion auf Lous Ausschweifungen. Was sie für sich behielt, war, dass sie zwar stumpfsinnig einen muffigen ausgestopften Uhu mit menschlichen Zügen skizzierte, sich in Wirklichkeit aber gleichzeitig die markanten Konturen, die Linien und Schatten von Tom Kavanaghs bemerkenswertem Gesicht einprägte: die schmale Nase und den kräftigen Kiefer, die großen, dunklen Augen unter dem widerspenstigen Schopf schwarzen Haars, das von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Später, in der Ungestörtheit ihres kleinen Ateliers, würde sie, so gut sie konnte, ein Bild dieses Gesichts aus dem Gedächtnis anfertigen. Sie würde jeden Tag daran arbeiten, beschloss sie, unmittelbar im Anschluss an seine Vorlesung.
    Und sie würde, genau wie er seine Studenten angehalten hatte, ihre Nachmittage und Abende weiteren Exkursionen in den Wald und einem sorgfältig geführten Feldtagebuch widmen. Nicht, weil es sie auch nur im Geringsten kümmerte, wie sie in diesem Kurs abschnitt, sondern weil sie in dem Augenblick, als sie die Walddrossel gehört hatte, genau als Tom Kavanagh ihren Namen aufrief, etwas Gewaltiges begriffen hatte. Sie wollte Vögel nicht nur zeichnen, sie wollte sie verstehen, wollte dem Gefühl, mit hohlen Knochen zu fliegen, so nah wie möglich kommen. Dem Gefühl, auf einem warmen, pochenden Ei in einem zarten Bett in einer Astgabel zu sitzen. Dem Gefühl, nicht aus einer menschlichen Kehle zu singen, sondern aus einer Stelle tief in der Brust.
    Tom Kavanaghs Leidenschaft für Vögel erschreckte Addie nicht. Und sie fand die Evolutionstheorie weniger

Weitere Kostenlose Bücher