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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Vogelmalerin, im Sommer 1966 ein Hochzeitsgeschenk gebaut: einen Beobachtungsansitz, errichtet nach dem Vorbild der Tarnhütten der englischen Vogelmaler, die Addie während ihres Auslandsaufenthalts entdeckt hatte. Der Ansitz war ein hölzerner Verschlag mit einer Bank und einer schmalen Öffnung auf Augenhöhe, unauffällig in den Wald geschmiegt, und Addie saß dort stundenlang und wartete auf die Vögel, die sie zeichnen würde – Rotkehlhüttensänger, Waldsänger unterschiedlicher Färbung, ihre geliebte Walddrossel und die Scharlachtangare (nach deren englischer Bezeichnung, Scarlet tanager , sie ihre Tochter benannte). Und sie zeichnete auch andere – Rotkardinale, Wanderdrosseln, Häher und Grackeln. In jenen Tagen war sie nicht wählerisch, im Gegenteil, sie verachtete die Sorte Vogelbeobachter (»Spatzenhirne«, nannte sie sie), die eine Spezies nur wertschätzten, wenn sie selten war.
    Das hatte Scarlet von Anfang an mit ihrer Mutter gemeinsam gehabt. Scarlet liebte sogar die Kanadareiher, die in ihrer Jugend in diesem geschützten Gebiet nahe des Delaware River immer häufiger anzutreffen waren und deren raues, hässliches Kreischen die Morgen- und Abendstunden durchdrang, wenn Familie Kavanagh zu den Mahlzeiten auf der Veranda saß. Nie würde sie den Anblick eines dieser Vögel vergessen, der sich in dem Frühling, als sie zwölf war, jeden Morgen aus dem Bach aufschwang, wenn sie auf dem Weg zum Schulbus die Fliegengittertür hinter sich zufallen ließ. Das Rascheln der Flügel und dann die lautlose, gewaltige Spannweite über Scarlets Kopf, die den Himmel verdunkelte – jedes Mal stockte ihr der Atem. Und jeden Tag versuchte sie während der Busfahrt, das Aufsteigen des Reihers aus dem Wasser zu beschreiben, spielte im Kopf mit Worten: »riesenhaftes, stilles, gefiedertes
Flugzeug«, »blaugraue Wolke mit Flügeln«. Tom hatte, was ihr nach wie vor peinlich war, ihre Schulhefte aus diesen Jahren aufbewahrt – Seite um Seite voller Formulierungen dieser Art, aber eher spärlich gesäten Hausaufgaben.
    »Reiher rauben einem die Worte«, hatte sie ihrem Vater einmal mitgeteilt, als sie mit ihren Eltern noch wohlwollend über Vögel sprach. Das wusste sie, weil es in Toms kaum lesbarer Handschrift ganz hinten in einem ihrer Spiralblöcke stand, wo er ihre Bemühungen gelobt und dann seine eigene Ergänzung angefügt hatte: »Ganz bestimmt regen sie nicht zum Singen an.« Dieses und andere Schulhefte hatte er ihr gezeigt, als sie wieder angefangen hatten, über Vögel zu sprechen, als sie fröhlich debattierten, ob Musik oder Dichtung besser geeignet war, die ungestümen, begeisterten, nicht einzuordnenden Gesänge und Rufe dieser Tiere festzuhalten.
    Das war, in gewissem Sinne, Toms Lebenswerk. Sein erstes und einziges Buch Eine Prosodie der Vögel war vieles – zum einen eine Streitschrift wie auch ein Aufruf zu Frieden und ökologischer Verantwortung. Aber außerdem auch ein Versuch, in Anlehnung an die metrische Darstellung von Gedichten ein System zu erschaffen, mit dem man die Lieder bestimmter Vögel transkribieren konnte: Hebungsstriche und Senkungsbögen und Akzente kletterten und fielen in rhythmischen Mustern über die Seiten, hier und dort ergänzt von einzelnen Takten in Notenschrift. Die Prosodie war mit einigen von Addies frühesten Werken illustriert, einschließlich Reproduktionen von fünf Gemälden – dem einer Scharlachtangare, eines Purpurgimpels, eines Kentucky-Waldsängers, eines Reisstärlings und einer Walddrossel: Vögel, deren Gesänge zu Toms Favoriten gehörten.
    Natürlich gab es andere, die seine Leidenschaft für die Musik dieser Vögel teilten. Hier zum Beispiel eine Beschreibung
der Stimme des Reisstärlings aus einer späteren Ausgabe des Vogelführers Field Guide to the Birds von Roger Tory Peterson: »Gesang im Schwebeflug und im bebenden Abstieg verzückt und überschäumend, beginnend mit tiefen, näselnden Tönen und dann aufwärts jauchzend« – ein weiterer Satz, der in einem von Scarlets Heften auftaucht, und einer, den sie immer noch liebt. Diese Beschreibung aus Petersons Buch sei ein Gedicht an sich, Beweis dafür, sagte sie oft zu Tom, dass man möglicherweise Sprache brauche – sperrige, unkooperative, aber gleichzeitig perfekt gestimmte und griffige Worte –, um zu erfassen, was genau an diesen Geschöpfen die Menschen eigentlich so fesselt. »Wenn du solch eine Sprache gelesen hast, musst du dann überhaupt noch den Gesang selbst hören?«, fragte

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