Die Luft, die uns traegt
bedrohlich
als einschläfernd. Aber was er hatte, und was sie haben wollte, war ihr von jenem ersten Morgan an klar: eine Passion für diese Geschöpfe – dafür, sie wahrhaftig zu hören, zu sehen, zu kennen –, neben der alles andere im Leben belanglos wirkte.
Aus irgendeinem Grund hatte sie damals das Gefühl gehabt, all das läge im Bereich des Möglichen, wenn sie nur sein Gesicht immer vor sich sähe. Also nahm sie sich vor, sich so rückhaltlos in diesen Kurs zu stürzen, wie Cora es mit Sicherheit täte. (Lou war eine andere Geschichte; sie würde bestimmt zu denen gehören, die sich bald eine andere Veranstaltung suchten.) Aber Addie wusste, dass sie inmitten ihrer Beschäftigung mit Vögeln auch ihn zeichnen würde, heimlich, so wie sie sich durch ihre täglichen Beobachtungen an ihn erinnerte.
Feldtagebucheintrag
12. Mai 1965
Mittwoch
Riegel’s Point, Plumville, Bucks County, PA (bewaldete Landzunge zwischen Delaware-Kanal und Delaware River, 800 m nördlich von Plumville).
Zeit : 06.00 – 06.30 – Mündung des Kleine Creek, unweit der Kreuzung der Old Philadelphia Road mit der Flussstraße; 06.45 – 08.00 – Riegel’s Point.
Beobachter : Addie Sturmer. Allein.
Habitat : Sumpfeiche, Ahorn und was wir zu Hause Milchorangenbäume nennen (mit diesen seltsamen, baseballgroßen, gehirnähnlichen Früchten). Glockenblumen blühen, und ich habe noch mehr von Coras geliebten Windröschen gefunden.
Wetter : 18 °C.
Bewölkt und windstill nach heftigem Regen. Gilt das als 100 % Wolkendecke? Oder habe ich da bei der Biegung des Kleine Creek an der Haupt Bridge Road ganz kurz ein Fleckchen (1 %?) Blau entdeckt?
Bemerkungen : Ich habe mir Ihren Ratschlag zu Herzen genommen, den Unterricht zu schwänzen und zuzuhören , ganz allein.
BEOBACHTETE SPEZIES
An der Mündung des Kleine Creek:
Wanderdrossel 3
Singammer 1
Dunenspecht 1
Goldzeisig 6
Am Riegel’s Point:
Drosseluferläufer (glaube ich) 2
Anzahl der Spezies : 5; Anzahl der Individuen : 13; Zeit : 2 Std.
Anmerkungen : Die Drossel und den Dunenspecht habe ich gehört und erkannt. Aber am schönsten war, einen Uferläufer zu zeichnen, der im Schlamm herumpickte wie ein wütender alter Mann, dem sein ganzes Kleingeld heruntergefallen ist.
Ich mag diese lateinischen Namen einfach nicht immer schreiben. Tut mir leid.
12. Mai – Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich am Samstag allein mitnehmen wollen. Ich freue mich schon darauf.
Und ich fühle mich ebenfalls geschmeichelt, dass Sie sich für meine Bilder aus England interessieren. Ja, ich werde ein paar davon mitbringen. Aber nicht die Gemälde, nein. Die
sind absolut fürchterlich. Ich glaube nicht, dass ich die jemals jemandem zeigen werde.
Wenn ich mich mutig fühle, nehme ich vielleicht ein Bild von einem Goldzeisig mit, an dem ich gerade arbeite. Ich habe ihn eines Tages im Central Park in New York City stundenlang gezeichnet. Wussten Sie, dass die Vogelwelt dort unglaublich ist?
Das war jetzt dumm. Natürlich wissen Sie das.
Was den Virginia-Uhu betrifft, den ich in der ersten Vorlesung gezeichnet habe – nein, eher nicht. Das war eigentlich mehr eine Karikatur. Nichts, was ich zeigen möchte.
Und ja, es stehen auch ein paar von Louises Kommentaren darunter. Aber glauben Sie mir, nichts Negatives über Sie. Im Gegenteil.
Bitte unterschätzen Sie Louise (wir nennen sie Lou) nicht. Offenbar tut das fast jeder, und ich vermute, es ist ihre eigene Schuld. Aber ganz ehrlich, sie beobachtet und lernt mehr, als Ihnen vielleicht bewusst ist – obwohl es wahrscheinlich den Anschein hat, als wäre sie nur daran interessiert, unserem Prinzesschen »Igitt, ein Käfer!« den guten Mr »Ich übernehme später mal die Arztpraxis meines Vaters« abspenstig zu machen. (Einer solchen Herausforderung kann Lou nicht widerstehen. Sobald er ihren Köder schluckt, wird sie sich anderen Dingen zuwenden und ihn ausspucken wie kalten Kaffee.)
Wie dem auch sei, inzwischen haben Sie ja in Lous Feldtagebuch schon gesehen, was ich meine. Sie kann wunderschön schreiben, finden Sie nicht? Und sie wird langsam richtig gut im Vögelentdecken – beinahe so gut wie Cora und Karl. Wenn ich allein losziehe – was natürlich besser für das Zeichnen ist –, vermisse ich Ls und Cs gute Laune.
Selbst diese Exkursionen in der Abenddämmerung sind allerdings allmählich etwas überlaufen. Karl möchte selbstverständlich
immer mitkommen, was normalerweise bedeutet, dass sein Freund Robert auch mit von der
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