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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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auch nicht.« Dann wandte er sich wieder an Lou und hielt seine Handflächen vor sich in die Luft. »Du hast gewonnen. «
    Daraufhin sah sie ihn eindringlich an, zum ersten Mal an diesem Morgen ernst und ohne ein Lächeln. »Das ist kein Krieg, Tom«, sagte sie. »Oder wenn doch, dann geht es nicht um uns. Sondern um Addie.«
    Der Rektor, taktvoller – und unaussprechlich dankbarer – Spendensammler, der er war, wählte genau diesen Moment, um sich zu entschuldigen und seine Sekretärin zu bitten, den Anwalt des College anzurufen. Als er ging, lächelte Lou, ihr Tonfall wurde wieder leicht und luftig, als sie fortfuhr: »Und vielleicht kann Addie sich nun endlich von all ihren Kriegen ausruhen, Tom – wo auch immer du und Scarlet sie hingebracht habt.«
    Tom erwiderte ihr Lächeln. »Tja«, sagte er, »sie ist nicht dort, wo ich erwartet hatte. Sagen wir nur, dass ihre Tochter sich offenbar etwas vom Kampfgeist ihrer Mutter angeeignet hat.«
    »Den hatte sie schon immer«, gab Lou zurück. Und fügte hinzu: »Und weißt du was, ich kann das nachvollziehen. Ich muss zugeben, dass es mir Spaß macht, Feinde zu haben.« Sie beugte sich näher zu Tom vor, als der Rektor zurück in sein Büro kam. »Es ist schön, einen neuen zu haben«, flüsterte sie.
    »Du meinst unseren illustren lokalen Bauunternehmer?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, der ist ein kleiner Fisch. Als Nächstes knöpfe ich mir euren begriffsstutzigen, bigotten Senator vor. Meine Freunde in Washington haben mir schon ein paar würdige Gegner angetragen, denen ich
den Rücken stärken könnte.« An dieser Stelle räusperte sich der Rektor und raschelte mit einigen Unterlagen auf seinem Schreibtisch, und Lou wandte sich ihm mit ihrem routinierten Lächeln zu.

Zwanzig
    Addie hatte erfolglos versucht, Proust zu lesen. In Swanns Welt aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit war so unmenschlich lang, und das war nur der erste Band! Doch das war eine letzte Empfehlung ihrer Freundin Candace aus der Bibliothek gewesen. Im März hatten sie sich zum Mittagessen getroffen, eine Woche, bevor Addie und Tom das Auto beluden und nach Cider Cove fuhren, um die Hospizmitarbeiter kennenzulernen und in Coras Werkstatt ihr »Lager aufzuschlagen« (Toms Worte). Als sie am Telefon die Einzelheiten besprachen, hatte Cora auf diesem Raum bestanden, wegen der umlaufenden Veranda und der nach Süden gelegenen Fenster mit Blick auf mehrere knospende Ahorne zwischen Coras und dem Nachbarhaus. »Von dort aus wirst du mehr Vögel sehen und hören als in jedem anderen Zimmer«, hatte sie gesagt.
    Addie erhob keine Einwände. Es schien für Cora so wichtig zu sein, ihr die Werkstatt zu überlassen. Da spielte es doch keine Rolle, dass Addies Einstellung zum Vogelgesang sich in den letzten Jahren verändert hatte. Was sie Cora nicht erzählte, sehr wohl aber Candace beim Mittagessen an jenem Tag, war, dass sie sich in den vergangenen Wochen, seit ihre Kräfte allmählich schwanden und sie erneut zu erschöpft zum Arbeiten war, plötzlich in sich selbst verlor, kaum etwas draußen vor
ihrem Fenster wahrnahm, sondern stattdessen von Erinnerungen überflutet wurde, unglaublich lebhaften Erinnerungen: an Orte. Ihre Farben und ihre Beschaffenheit, ihr spezielles Licht und die Art, wie sich die Luft auf der Haut und beim Eindringen in Nase und Kehle angefühlt hatte. Und an ihre Gerüche.
    Sie hatte sogar, nachdem sie jahrelang über die Vogelbeobachter und ihre Listen gesichteter Spezies gespottet hatte, nun selbst eine Liste angefangen – von Gerüchen. Nicht alle davon waren im engeren Sinn die Gerüche der natürlichen Welt, aber alle hatten einen Bezug zu Orten, die Addie liebte, wie zum Beispiel den Wald auf dem Land ihrer Eltern oder am Burnham Ridge, die grünen Landstraßen Englands und Irlands, das salzige Marschland zwischen Cape May und Cider Cove. Und auch neue Orte, die sie in den letzten Jahren mit Tom bereist hatte. Sie hatte sie nicht aufgeschrieben; dazu verspürte sie kein Bedürfnis. Vielmehr trug Addie die Liste in ihrem Kopf herum, ging die einzelnen Posten mehrmals täglich im Geiste durch, rief sich jeden Geruch ins Gedächtnis:
    Der elektrische Geruch nach Moder und Humus vor einem Gewitter in Pennsylvania.
    Heu auf dem Dachboden der Scheune ihres Vaters, das sich mit dem stinkenden Misthaufen darunter bekriegte.
    Bratender Speck.
    Flussschlamm.
    Dieselabgase aus einem englischen Bus.
    Die wasserfleckigen Einbände alter

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