Die Luft, die uns traegt
beinahe unfertige Art tatsächlich die Erfahrung der Vogel beobachtung einfingen. Obwohl die Tiere in den Illustrationen regungslos waren,
kam es dem Betrachter vor, als hätte er sie gerade in kraftvollem Flug beobachtet, oder beim Picken nach Insekten im Gras oder unter einer Baumrinde oder beim Füttern ihrer Jungen. Es waren beseelte Abbildungen von Geschöpfen mit Seelen.
Addies Arbeiten in Toms Buch hatten etwas seltsam Ätherisches an sich, diese frühen Zeichnungen und Bildtafeln machten mehr als deutlich, dass ihre Schöpferin die Vögel, ihren Lebensraum und, unverkennbar, den Autor des Buches liebte.
Doch vielleicht entdeckte Scarlet auch deshalb eine Hingabe an die Landschaft in dem Buch, weil sie selbst die Wälder und Bäche und Täler des östlichen Pennsylvania genauso liebte wie ihre Eltern. Es war eigentlich keine mitreißende Landschaft. Sie verströmte weder die altmodische Heimeligkeit der Strände von Jersey noch das behütete Gefühl, das Scarlet immer in den Ebenen Vermonts und des nördlichen Massachusetts empfand, und ganz gewiss nicht die Weite der Küsten Neuenglands oder Long Islands.
Die Täler, die den kleinen Ort Burnham umgaben, hatten für Scarlet nichts Behütendes. Zweifellos gab es dafür psychologische Gründe. Aber vielleicht lag es auch am Delaware, einem breiten, braunen Fluss mit seiner eigenen komplexen Geschichte, der irgendwie eine Welt von der anderen trennte, wenn er auch natürlich, zumindest seit der Kolonialzeit, keine echte Grenze zwischen Ost und West darstellte. Aber manchmal fühlte er sich immer noch so an. Und der Strom selbst wirkte seltsam eingeengt, domestiziert, wurde er doch im nördlichen Teil von Bucks County parallel zu seinem Flusslauf durch den Delaware-Kanal geführt. Das hatte etwas beinahe Klaustrophobisches, es war, als fände man, wenn man dem Verlauf eines Baches von den Hügeln Burnhams hinab bis zu seinem Endpunkt an den heimtückischen Windungen der
Flussstraße und von dort aus weiter dem Pfad zwischen Fluss und Kanal folgte, statt der Freiheit und Offenheit, auf die man gehofft hatte, eine Art Bühnenbild.
Doch die ganze Gegend war wirklich schön, auf eine stille Weise. Es gab zauberhafte steinerne Bauernhäuser, friedliche Gehöfte, die sich in die Arme von Tälern schmiegten, kurvige Straßen, die hin und wieder die Sicht auf den Fluss freigaben – kurze, flüchtige, atemberaubende Bilder. Und dann fielen diese Straßen genauso plötzlich wieder in eine dunkle Senke hinab, die in Schatten gehüllt war, egal wie hell die Sonne schien. Kein wirklich freier Blick. Und doch auch kein Schutz.
Wenn Scarlet als Erwachsene nach Burnham zurückkehrte, spürte sie immer einen Kloß im Hals, eine Sehnsucht nach der Verbundenheit, die sie als Kind mit den Bäumen und den Hügeln, den rauschenden Bächen und den sich durch die Wälder um ihr Elternhaus herumschlängelnden Pfaden empfunden hatte. Und außerdem eine überwältigende Unzufriedenheit, dass sie es nie geschafft hatte, über diesen kleinen Winkel des südöstlichen Pennsylvania zu schreiben. Sie war hier zu Hause, aber auch gefangen. Und sie fragte sich: Empfanden andere Leute genauso gegenüber dem Ort ihrer Kindheit?
Natürlich war es Addie, die ihr beibrachte, das alles so zu sehen. Seit ihren allerersten Lebenstagen begleitete Scarlet ihre Mutter zu ihrem Ansitz am Nisky Creek. Als Scarlet etwa vier oder fünf war, baute Tom einen zweiten, dieses Mal hoch oben in einem alten Ahorn. Für Scarlet war das ein aufregendes Baumhaus, und sie verbrachte die Vormittage dort glücklich mit Malen und Lesen, während ihre Mutter zeichnete. Inzwischen hatte Addie sich von den Erlösen aus dem Verkauf der Prosodie und einiger Bilder ein hochwertiges Spektiv gekauft,
eins, das durch ein kleines Fenster in dem Holzverschlag hinaus nach oben zeigte, wodurch sie es auf einen weit entfernten Vogel richten und ihn gleichzeitig in aller Ruhe zeichnen konnte.
Für Scarlet hatte Tom ein weiteres, größeres Fenster oberhalb einer kleinen Bank in der Rückwand des Verschlags ausgesägt, und manchmal verließ Addie ihr Spektiv, um mit ihrer Tochter gemeinsam zu beobachten. Ihrer beider Lieblingsvögel zu dieser Zeit waren die Schwarzkopfmeisen, verspielte kleine Akrobaten, die an den Erdnussbutterklecksen pickten, welche Addie und Scarlet am Rand von Scarlets Fenster verstrichen, wenn sie morgens in den Ansitz kamen. Die Meisen fraßen und tollten unmittelbar vor ihrer Nase herum und betrachteten sie
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