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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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wir alle los, weil in Burnham eine Frau namens Phoebe studierte, die wir nicht leiden konnten, weshalb wir uns das auch sofort aufgeschrieben hatten, als Tom es in einer Vorlesung erwähnte. Ab dann flüsterten wir jedes Mal, wenn wir die Arme sahen – ich sage jetzt ›die Arme‹, aber in Wahrheit war sie ein furchtbarer Snob, ein wirklich unangenehmer Mensch, was uns viel mehr störte als ihr Ruf, mit dem gesamten Football-Team zu schlafen –, jedes Mal, wenn wir sie also sahen, flüsterten wir ›Phoeben sind Brutwirte, o ja, Phoeben sind Brutwirte !‹ Woraufhin wir in lautes Gewieher ausbrachen. Wie eine Bande Zwölfjähriger. Du lieber Gott.« Sie lacht kurz traurig und wischt sich die Augen.
    Scarlet lächelt. Sie hat diese Geschichte schon oft gehört und immer geliebt – dieses Bild von Addie und ihren Freundinnen ist so banal und nichtig, so menschlich. Eine Seite von Addie, die sie selbst selten zu Gesicht bekam. Die Sache mit Tom als daherstolzierendem
Häher ist ihr allerdings ein Rätsel. Diese Einschätzung ihres Vaters hat sie schon immer verwirrt, die Vorstellung, dass er der Rastlose war, derjenige, der dazu neigte umherzuziehen. Ein Vagabund, ein Irish Rover . So sahen ihn früher offenbar viele, aber Scarlet kam es immer so vor, als wäre es Addie gewesen, die ruhelos wurde, nicht Tom.
    Cora starrt die Tischplatte an, immer noch die Vergangenheit vor Augen. »Lou war dann natürlich nicht mehr zu bremsen und riss einen geschmacklosen Witz, irgendetwas über Kuhstärlinge und Versagerväter. Etwas Rassistisches oder dergleichen, du weißt schon, mit einem nachgemachten Südstaatenakzent. ›Wo ich herkomme, heißt es immer, da drüben in dem Slum, da wohnen die Kuhstärlinge.‹ Als lebte sie mitten in Alabama statt in einem schicken Vorort von Washington. Natürlich sagte sie das, um deine Mutter zu provozieren. Und es funktionierte jedes Mal. ›Seht ihr?‹, fing sie an. ›Das ist typisch Wissenschaftler. Treffen angeblich objektive Beobachtungen und lassen den Rest der Welt dann damit zur Hölle fahren, Schulen nach Rassen trennen, Bomben werfen, tonnenweise Chemikalien auf Reisfelder kippen.‹«
    Scarlet schält sich aus dem Schlafsack, den sie um ihre Beine gewickelt hatte. Die Sonne wird jetzt heller und wärmt die Veranda langsam auf. »Solche Dinge hat sie sogar damals schon gesagt, so früh?«, fragt sie.
    »Aber klar. Ich war immer froh, dass Karl nicht in der Nähe war, wenn sie sich in Rage redete, jeden von Einstein bis Oppenheimer niedermachte. Vergessen war, dass die ganze Sache harmlos angefangen hatte, nämlich damit, dass wir wissenschaftliche Begriffe für unsere Zwecke zurechtgebogen hatten. K-Strategen sind einfach nur Tiere, deren Nachwuchs sich langsamer entwickelt und die sich intensiver um ihre Jungen kümmern, weil sie stärker um Ressourcen konkurrieren müssen.
›K‹ und ›r‹ sind schlicht mathematische Symbole, anhand derer Zoologen über Tierpopulationen sprechen. Soweit ich weiß, hat das überhaupt nichts damit zu tun, wie viele Kinder eine menschliche Mutter zu bekommen beschließt.«
    Cora lächelt, etwas verlegen. »Ich staune, dass ich das noch weiß«, sagt sie. »Da siehst du mal, was für ein guter Lehrer dein Vater war. Jedenfalls sollst du wissen, dass wir damals nur Spaß gemacht haben. Wir lachten die ganze Zeit dabei – selbst Addie. Damals.«
    »Genau«, sagt Scarlet. »Das war der Unterschied, oder?«
    Irgendwann fand Addie es nämlich nicht mehr komisch. Scarlet kann sich ebenfalls an die Zornausbrüche ihrer Mutter über K-strategische Menschen erinnern, die sich wie r-strategische wilde Tiere benähmen, Rohstoffe verschwendeten, ihre Jungen zum Sterben in den Krieg schickten. Tom hat es immer gehasst, wenn sie wissenschaftliche Konzepte so verwendete. Biologie in Soziologie verwandeln, nannte er es.
    »Tom hat immer gesagt, dass Naturwissenschaftler weit optimistischer sind als Künstler«, sagt Scarlet jetzt und erinnert sich an die endlosen Debatten ihrer Eltern. »Auf jeden Fall ist er mehr Optimist, als Addie es war, was vermutlich nicht sonderlich viel heißt. Auch mehr als ich – wie er mir regelmäßig unter die Nase reibt. ›Dichter, Maler, Musiker, die ganze Bande – Künstler sind hinter der hübschen Fassade alle grässliche Zyniker‹, behauptet er.«
    »Und was sagst du darauf?«, fragt Cora. Sie sieht Scarlet eindringlich an.
    »Ach, normalerweise stimme ich ihm einfach zu.« Plötzlich ist Scarlet dieser Unterhaltung

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