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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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in der Marsch beim Leuchtturm, zum Beispiel – , aber jeder Ort ist jetzt unerträglich von Addies Anwesenheit erfüllt, und es gibt an diesem Tag noch so viel zu entscheiden. Noch allerdings kann niemand ertragen, damit zu beginnen, und so sitzt Scarlet bei Cora, als wäre es ein oder zwei Jahre früher und sie gerade eingetroffen, übernächtigt und aufgelöst wegen ihres Liebeslebens, jammernd, weil sie alles verpfuscht hat. Welten entfernt von allem, was sie an diesem Tag empfindet.
    Als die Uhr am Herd zu piepsen beginnt, verschwindet Cora in der Küche. Wenige Minuten später kommt sie mit einem Blech zurück und setzt sich Scarlet gegenüber. »Kaffee?«, fragt sie, wie immer. Als Scarlet ablehnt, zieht sie überrascht eine Augenbraue hoch, gießt dann Saft in einen glasierten Keramikbecher – einen ihrer selbstgemachten – und wartet darauf, dass Scarlet zuerst spricht.
    »Lucy sieht müde aus«, sagt Scarlet schließlich. Sie lechzt nach einem Schluck von Coras wunderbar starkem Kaffee, bemüht sich aber, so zu tun, als hätte sie seinen berauschenden Duft gar nicht wahrgenommen.
    »Sie ist ein altes Mädchen, so wie ich«, gibt Cora zurück und tätschelt den Hund wieder. »Erst neulich haben wir alle, deine Mutter und Lou und ich, uns darüber unterhalten. Wir hatten ein sehr seltsames Gespräch, es ging um die ganzen Haustiere, die wir im Laufe der Jahre haben sterilisieren lassen. Wir haben uns gefragt, ob ein Tier dabei etwas empfindet, was es für diese armen Weibchen bedeutet, niemals Junge zu haben. Falls es überhaupt etwas für sie bedeutet.«
    Als Cora sich über Lucy beugt, betrachtet Scarlet das Spiel von Morgenlicht und Schatten auf ihrem Gesicht, auf den Falten
in ihren Augenwinkeln und um den Mund herum. Sie kennt dieses Gesicht beinahe so gut, wie sie das ihrer Mutter kannte, bevor Addie in den vergangenen Monaten so hager wurde, wenn sie auch dennoch schmerzlich schön blieb. Und sie kennt dieses gemütliche alte Haus beinahe so gut wie das Cottage auf der Haupt Bridge Road. Kein Wunder, dass Addie hier sterben wollte, denkt sie nun, da Coras wohltuende Anwesenheit jeden Raum erfüllt – der Geruch nach ihrem Selbstgebackenen, die frische Meeresluft, die durch die Fenster weht, die dunkel glasierten Oberflächen ihrer Krüge und Vasen und Kaffeebecher, die einen dazu verlocken, sie in die Hand zu nehmen und zu streicheln.
    Und einen Moment lang schämt Scarlet sich für ihre gereizte Reaktion vor sechs Wochen auf Addies Bitte, hierher gebracht zu werden. »Warum nicht zu Hause?«, hatte sie Tom gegenüber geklagt. Damals hatte sie eine merkwürdige Eifersucht empfunden, wollte weder ihre sterbende Mutter noch Cora auf diese Weise teilen.
    » Irgendwie kamen wir also auf das Thema Fortpflanzung bei Tieren«, sagt Cora, »und plötzlich sitzen wir wieder in Toms Biologieunterricht und lernen von K-Strategen und r-Strategen. Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir uns früher darüber unterhalten haben? Wir neckten Addie, als du vier oder fünf warst, und sie sagte dann immer, sie könne sich nicht vorstellen, ihre Liebe mit weiteren Kindern zu teilen. ›Du bist die ultimative K-strategische Mutter‹, erklärte Lou dann gern, wobei sie natürlich an dem wesentlichen Punkt der Theorie völlig vorbeischoss. Aber Addie liebte das. ›Genau!‹, sagte sie. ›Ich bin ein Waldlaubsänger! Ich teile den Planeten friedlich, beanspruche weniger Platz, nehme mir nur, was mein Kind und ich brauchen. Kein Konkurrenzausschlussprinzip, keine intraspezifische Konkurrenz!‹«

    Cora scheint ganz in ihre Erinnerung versunken. »Daraufhin sagte dann Lou: ›Aber pass auf diesen Tom auf, das ist ein daherstolzierender Blauhäher, meinst du nicht? Haben Blauhäher nicht überall Nachwuchs und überlassen ihn dann sich selbst? Oder waren das Grackeln? Kuhstärlinge?« Cora ist nicht besonders gut im Imitieren, aber trotzdem kann Scarlet Lou geradezu hören, ihren schneidenden Tonfall, den Hauch von Sarkasmus, der immer in ihrer Stimme liegt.
    »Addie korrigierte sie natürlich«, fährt Cora fort. »›Nein, nein‹, meinte sie. ›Kuhstärlinge sind Brutparasiten. Was einfach nur bedeutet, dass sie keine eigenen Nester bauen. Sie lassen ihre Jungen von anderen aufziehen.‹ Und dann machte einer von uns einen albernen Scherz über Phoebetyrannen. ›Von den Phoeben! Sie lassen sie von den Phoeben aufziehen! ‹« Jetzt tanzen Coras Augen, glitzern. »›Phoeben sind Brutwirte!‹ Und dann gackerten

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