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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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mit derselben Neugier, mit der auch Scarlet und Addie sie ansahen. So furchtlos und vertrauensvoll.
    »Dafür muss man sie bewundern, findest du nicht? Warum in aller Welt sollten sie einem Menschen vertrauen?«, fragte Addie eines Tages, und Scarlet vergaß das nie. Sie träumte auch als Erwachsene immer noch manchmal von Meisen. In der Nacht, bevor Addie starb, tauchte ein faustgroßes Tier in Scarlets Traum auf, flatterte über ihrem Kopf und spähte auf sie herab. Es schien zu fragen: »Geht es dir gut?« Also antwortete sie: »Mir geht es gut, jetzt, wo du da bist«, und dann wachte sie auf.
    Nach einer Weile hatten die Schwarzkopfmeisen immer die ganze Erdnussbutter aufgefressen und zogen weiter, und Addie widmete sich wieder dem Zeichnen an ihrem eigenen Fenster. Scarlet beschäftigte sich still, solange sie konnte. Wenn ihr das Warten endgültig zu lang wurde, tippte sie Addie auf die Schulter und bat um ihr Mittagessen. Dann breiteten sie ihre Decke aus – manchmal unten am Bachufer oder, an Regentagen,
auf dem Fußboden des Baumhauses – und aßen ihre Sandwiches. Und Addie erzählte ihre Geschichten.
    Anfangs waren es manchmal Geschichten über sich selbst: über ihre Kindheit auf dem Bauernhof, als sie die wenigen Kühe mit ihrem Bruder John zusammen über die Weide scheuchte; über Scarlets Großeltern, die sie nur an Feiertagen und jeweils etwa eine Woche im Sommer sah; über Addies Reise nach England, als sie zwanzig war. Als Scarlet älter wurde und nach mehr dieser persönlichen Erinnerungen dürstete (Hattest du Freunde? Was für welche? Gab es auch Jungs? Bist du auf Partys gegangen? Erzähl mir mehr von Lou und Cora), schien Addie von Berichten aus ihrem eigenen Leben zusehends gelangweilt.
    Viel lieber wollte sie über Vögel sprechen. Über das Land und seine Geschichte. Über berühmte Persönlichkeiten in ihrer Welt – Audubon, Peterson, Rosalie Edge und andere, die eine Verbindung zum Vogelschutzgebiet Hawk Mountain Sanctuary westlich von ihnen hatten –, über Leute, die für sie Helden waren. Doch Scarlet war enttäuscht, wenn Addies Geschichten diese Richtung einschlugen. Schließlich begann sie, die Einladungen ihrer Mutter, sie in den Ansitz zu begleiten, abzulehnen, und spielte lieber mit Freunden in der Nachbarschaft oder blieb allein zu Hause und las.
    Damals hatte Scarlet das Gefühl, dass Addie ununterbrochen versuchte, ihr etwas beizubringen. Aber dazu reichte ihr schon die Schule, fand sie. Jahre später erst begriff sie, dass Addie in Wahrheit ihrem eigenen Leben eine Gestalt zu geben suchte, indem sie ihrer Tochter diese Dinge erzählte – um sich selbst in der Landschaft zu platzieren, in den Fußstapfen dieser Menschen, die sie so bewunderte. Und viele der Geschichten waren solche, die Addie zuerst von Tom gehört hatte, damals, als sie sich kennen und lieben lernten, dort in
jenem wunderschönen Eckchen im nördlichen Bucks County, in den Wäldern ober- und unterhalb von Burnham Ridge, in einem Frühling, den sie damit verbrachten, Vögel und, als sie endlich die Ferngläser senkten, einander zu beobachten.

II
K-Strategen

Sechs
    MAI 2002
    Diese Morgenszene ist vertraut: Cora an dem kleinen Tisch auf der hinteren, mit Fliegengitter verkleideten Veranda, Brille auf der Nase und Zeitung vor sich ausgebreitet, abwesend ihren alten Collie Lucy streichelnd, der entspannt zu ihrem Füßen liegt. Solange Scarlet sich erinnern kann, hat Cora schon graue Haare und trägt einen praktischen Kurzhaarschnitt. Außerdem war sie immer hübsch. Die Liebenswürdigkeit und Offenheit in ihrem Gesicht und in ihren großen blauen Augen haben auf Scarlet irgendwie schon immer als Aufforderung gewirkt, Cora ihr Herz auszuschütten, ihre tiefsten Verletzungen und albernsten Sehnsüchte vor ihr auszubreiten – obwohl Cora niemals, unter keinen Umständen, dasselbe tun wird. Falls Cora alberne Sehnsüchte haben sollte, dann hat Scarlet das nie erfahren. Sie weiß ganz genau, wie tief Coras spezieller Schmerz ist – doch auch darüber hört sie von Cora niemals etwas.
    Die beiden Frauen kuscheln sich in Pullover, weil es am Morgen kalt auf der Veranda ist. Sonnenlicht strömt herein, der Frühnebel hat sich gelegt, und der lange, grasbewachsene Abhang hinunter zum Strand ist feucht vom Tau. Ein paar
Häuser weiter klappert ein Seil gegen einen Fahnenmast. Tom sitzt bereits seit einer Stunde oder länger an seinem Spektiv. Scarlet hat ihn beobachtet. Sie weiß, dass er lieber woanders wäre –

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