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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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sie ihren Vater. »Und falls du ihn hörst, wird er dich nicht zwangsläufig etwas enttäuschen?«
    Doch Toms Argument lautete, dass es niemandem – keinem Dichter, keinem Ornithologen, keinem Vogelbuchautor oder Verfasser von Zeitschriftenartikeln – je gelungen war, die Erhabenheit des Vogelgesangs einzufangen. F. Schuyler Matthews mochte dem in seinem Werk Field Guide of Wild Birds and Their Music aus dem Jahre 1904, einem der wertvollsten Schätze in Toms Besitz, ziemlich nahegekommen sein. Aber selbst Matthews, der über den Purpurgimpel schrieb, dass »seine Verführungskunst wahrlich liebhabergleich und unwiderstehlich« sei, schaffte es nicht ganz. »Spiel die Melodien, die er notiert hat, sooft du willst«, sagte Tom einmal. »Trotzdem wirst du den Gesang nicht erkennen, wenn du im Wald stehst.«
    Natürlich konnte man das Gleiche von Toms komplexer, beinahe undurchdringlicher metrischer Darstellung sagen. Aber für Addie, die trotz ihres nicht besonders ausgeprägten Gehörs im Laufe der Zeit ebenso gut im Hören und Erkennen
von Vögeln in freier Natur wurde wie Tom, schien sie zu funktionieren. Andererseits hatte Addie auch etwas mehr in den ganzen Prozess investiert als der durchschnittliche Wochenend-Vogelfreund und brachte Tom und seiner Methode auch etwas mehr Ehrfurcht entgegen, zumindest in diesen Anfangsjahren.
    Letztlich stimmte sowohl Addie als auch Scarlet mit Tom überein, dass nicht einmal Aufnahmen echter Vögel die Magie des Gesangs in freier Wildbahn – beziehungsweise draußen vor dem Schlafzimmerfenster kurz vor dem Morgengrauen zu Frühlingsbeginn – nachbilden konnten. Scarlet erzählte Tom und Addie einmal eine Geschichte, die sie über den Komponisten John Cage (den meisterhaften Chronisten unter anderem der Musik urbaner Kakophonie) gehört hatte. Er und sein Partner Merce Cunningham waren nach einem katastrophalen Wochenende auf dem Land, wo der lautstarke morgendliche Chor der Vögel sie beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte, fluchtartig in ihre Wohnung in New York City zurückgekehrt.
    Bemerkenswert ist, dass so viele Leute ein Geschick darin entwickeln, diesen Klang auszublenden. Klimaanlagen helfen natürlich dabei. Scarlet konnte noch nie schlafen, wenn eine in ihrem Zimmer dröhnte. Ihr Unbehagen mit dieser Art von technischer Stille hat sie Tom und Addie, vor allem Addie, zu verdanken. Addie zitierte früher gern hin und wieder, vielleicht beim Abendessen oder während Tom und Scarlet das Geschirr abräumten, aus dem Gedächtnis die Anfangszeilen von Ein Zukunftsmärchen , dem ersten Kapitel in Rachel Carsons Klassiker Der stumme Frühling . »Kein böser Zauber, kein feindlicher Überfall hatte in dieser verwüsteten Welt die Wiedergeburt neuen Lebens im Keim erstickt. Das hatten die Menschen selbst getan«, stimmte sie ergreifend an, und Tom
und Scarlet sammelten die Gabeln und Messer und Teller so geräuschvoll wie nur möglich auf und summten halblaut Folklieder.
    Eine Prosodie der Vögel war ein eigenwilliger Mischmasch, ohne jedes System und provokativ für praktisch jeden Leser. Dennoch letzten Endes reinstes Lesevergnügen, trotz der ganzen metrischen Zergliederung und der notierten Melodien und der unmöglichen Diagramme: die Essenz Tom Kavanaghs. Bei seiner Erstveröffentlichung 1969, nicht lange nach Scarlets Geburt, hatte das Buch einen bescheidenen Erfolg. Jedenfalls fand die Warnung vor dem drohenden Umweltkollaps und dem Verlust von Lebensräumen bei der damaligen Leserschaft Anklang, so prophetisch sie war. Nachdem es dann fünfundzwanzig Jahre lang vergriffen war, wurde es Ende der 1990er von einem Verlag in Berkeley neu aufgelegt als »Millenniumsausgabe«, die zu Toms und Addies Überraschung eine Art Kultklassiker wurde, beliebt bei Vogelbeobachtern, Umweltschützern, Befürwortern alternativer Medizin, Schriftstellern und Musikern. Scarlet allerdings war nicht erstaunt. Sie sah es inzwischen ebenfalls als brillantes, wunderschönes Buch.
    Natürlich hatte Addies streitbarer Ruf das jüngere Interesse an dem Werk stark angefacht. Doch es war nicht nur ihr Ansehen unter jungen Künstlern und Aktivisten. Das allein konnte die Popularität des Buches nicht erklären. Wenn es auch Tom letzten Endes nicht gelang, das klangliche Erlebnis des Vogelgesangs in der Sprache der Dichtung oder Musik nachzubilden, so waren sich doch offensichtlich die meisten Bewunderer von Eine Prosodie der Vögel einig, dass Addies Gemälde und Zeichnungen auf ihre luftige,

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