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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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beäugte ihn mit unverhohlenem Misstrauen, während sie zu dritt um Oxford herum durch schlammige Äcker stapften und über Zäune am Rande von Viehweiden kletterten. Einmal, als sie neben einem Wäldchen rasteten, um einen Schluck Wasser zu trinken, ging Tom auf die Pirsch nach einem Waldsänger, den er gehört zu haben glaubte, obwohl Miss Smallwood protestierte, das sei »höchst unwahrscheinlich« um diese Uhrzeit. Während er durch sein Fernglas spähte, hörte er sie, ziemlich rüpelhaft, wie er fand, fragen: »Und was wirst du in diesem kleinen Städtchen in Pennsylvania anfangen, Adeline?«
    Dann ein Rascheln von Laub und Flügeln, und sein Waldsänger war fort. Addie lachte nur und sagte, sie habe das Glück, ihrer Arbeit überall nachgehen zu können, »überall, wo es Vögel gibt«, was im Prinzip bedeutete, an jedem Ort der Welt, nicht wahr? Als Tom aus dem Wald trat, sah er den verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer ehemaligen Tutorin,
wenn sie auch nichts sagte, und als er das später Addie gegenüber erwähnte, lachte sie nur wieder.
    »Tja, ich bin lieber die Frau eines Ornithologen, die an ihren Bildern arbeiten darf, ob sie nun jemals jemand zu Gesicht bekommt oder nicht«, hatte sie gesagt und war dann verstummt, ohne den Satz zu beenden. Weil sie zu nett war und zu sehr an ihrer alten Lehrerin hing, nahm Tom an, um auszusprechen, was sie gewiss dachte: »als eine einsame alte Jungfer wie sie.«
    Aber andererseits dachte vielleicht auch nur er das. Jahre später sollte er darüber nachgrübeln, über den warnenden Tonfall in Margaret Smallwoods Frage (hatte sie möglicherweise sogar weitere Zweifel in späteren Briefen oder Gesprächen erhoben?). Und noch an eine andere Sache würde er sich erinnern: an den Stich, den er – inmitten des Hochgefühls, der zittrigen Erregung beim Lesen von Addies Feldtagebuch in jenem ersten Frühling – spürte, als sie zärtlich und sehnsuchtsvoll von New York City schrieb, und davon, im Central Park zu zeichnen.
    Würde jede Frau in seinem Leben dieses Ziehen fühlen, diese Sehnsucht nach der Stadt, nach einem Leben, das sie weg von Burnham, von der Arbeit, die dort zu tun war, weg von ihm locken würde?
    Selbst seine Tochter, Herrgott nochmal, dachte er Jahre später, in sich hineinlachend. Denn natürlich blieb Scarlet nicht in Burnham. Obwohl er manchmal wünschte, sie hätten sie auf ewig dort bei sich behalten können, auf ewig als fröhliches, lebhaftes Kind von fünf oder acht Jahren, selbst als stilleres, ernsteres Mädchen von zwölf oder dreizehn – sie drei immer noch glücklich in ihr warmes kleines Cottage im Wald gekuschelt.
    War es also sein eigenes Glück gewesen oder sein eigener
Erfolg, an den er dachte, damals, im Frühsommer 1965? Als er – trotz der schockierten Gesichter und gemurmelten Bedenken von Kollegen und Freunden – einen kleinen Zuschuss von einer Naturschutzgesellschaft in Philadelphia auftrieb und Addie als wissenschaftliche Hilfskraft für sein fortdauerndes Projekt der Beschreibung und Notation des Gesangs ziehender Waldsänger »einstellte«.
    Jeder in Burnham wusste selbstverständlich, dass Polly aus dem kleinen Bungalow ausgezogen war, den sie und Tom in der Straße hinter der Turnhalle, wo die Dozenten und Professoren wohnten, gemietet hatten. Sie wussten ebenfalls, dass ein Großteil des Zuschusses in Wahrheit in den Erwerb und die Renovierung der alten Fischerhütte auf der Haupt Bridge Road geflossen war, wo Toms sogenannte wissenschaftliche Hilfskraft wohnte und wo nach ihrem Collegeabschluss auch er selbst ganz offensichtlich die meisten Nächte verbrachte.
    Es gab also einen kleinen Skandal in dem Provinzcollege, das sich, obwohl es dort genauso viel Klatsch und Neid und Gehässigkeit gab wie in jeder anderen in sich geschlossenen Gemeinschaft, heftig um einen Anschein von aufgeschlossener Toleranz bemühte. Irgendwie machte das Tom – der praktischerweise genau ein Jahr zuvor eine unbefristete Anstellung erhalten hatte – gar nichts aus. Auf Polly angesprochen erklärte er ruhig, dass sie ihn wegen ihres Gesangslehrers und wegen eines Lebens in New York City verlassen habe, nach dem sie sich verzehrt hatte, seit sie beide vor zwölf Jahren in Amerika angekommen waren. Wenn die genaue Reihenfolge diverser Ereignisse – Pollys tiefe Unzufriedenheit und schließlich ihr Verschwinden, Toms unverkennbare Gefühle für eine fast fünfzehn Jahre jüngere Studentin – in den Köpfen anderer aus der Gemeinschaft,

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