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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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immer von anderen Gefühlen getrübt gewesen. Einem Hunger nach mehr Wissen. Einer Art verzweifeltem Streben.

    Und wenn er sich diese Empfindungen seiner Jugend ins Gedächtnis rief, dann war es nicht seine Mutter, an die er dachte, oder Polly oder sonst jemand aus seiner Familie. Vielmehr sah er das junge Gesicht seiner Lehrerin Schwester Catherine vor sich. Schwester Catherine, die, wie er später erkannte, ihn zu dem Lehrer gemacht hatte, zu dem er sich bis zu jenem Frühling, in dem er Addie kennenlernte, entwickelt hatte – einem Lehrer, der nach hungrigen Schülern suchte, wie er selbst einst einer gewesen war, und der ihnen mit Freuden gab, was sie brauchten.
    Obwohl er viel von seiner Kindheit in Irland hinter sich gelassen hatte, als er 1955 fortging, würde er niemals diese frühen Morgenstunden vergessen. Den langen, stillen Weg zur Schule über die holprige Straße, eigentlich mehr ein Feldweg, die von dem baufälligen alten Bauernhaus seiner Eltern nach Falcarragh führte.
    Er ging immer extra früher los, um sich an dem überschwänglichen Chor in den Baumkronen über seinem Kopf und dann, wo sich der Weg aus dem geborgenen Tal zur Hügelkante über dem Meer hinauswand, an dem Blick zu erfreuen – nicht nur auf die morgendlichen Federwolken über einer allmählich einsetzenden Ebbe, nicht auf die leisen Wellen, die langsam aus der geschützten Bucht anrollten. Wonach er Ausschau hielt und was ihm jeden Morgen neu den Atem verschlug, waren die Seevögel. Aufsteigend und ins Wasser tauchend, majestätisch schwimmend, prachtvoll am Rande der Gezeitentümpel hockend.
    Er hätte keinen einzigen davon benennen können. Ebenso wenig, wie er die Namen der herrlichen Sänger in den Ästen der zwischen seinem Elternhaus und dem Meer verstreut stehenden Bäume oder der graubraunen, schwarzgepunkteten Vögel mit dem weißen Fleck unter den Flügeln kannte, deren
Nest er eines Morgens, als er zehn war, in einem Busch an der Steinmauer hinter seiner Schule entdeckte.
    Schon eine Woche lang war er jeden Morgen in sicherer Entfernung auf die Mauer geklettert, um sie heimlich zu beobachten, als er eines Tages, während er angestrengt zu erkennen versuchte, was die Vogelmutter in die Schnäbel ihrer Jungen steckte, etwas an sein Bein klopfen spürte.
    Es war ein Feldstecher. In den Händen einer Nonne, die er sofort als die junge und geheimnisvolle Schwester Catherine erkannte – noch nicht seine Lehrerin, wenn sie es auch im folgenden Jahr werden sollte. Instinktiv sprang Tom von der Mauer hinunter und wollte sich, auf eine Strafpredigt gefasst, entschuldigen. Woraufhin die Vogelmutter aus dem Nest flog und ein anderer Vogel auf einem Baum in der Nähe – der Vater, erklärte Schwester Catherine später – einen lauten, grellen Ruf ausstieß, der nicht im Geringsten melodisch und auch nicht so gedacht war, wie sie weiter erläuterte, sondern zur Abschreckung von Eindringlingen wie ihnen beiden.
    »Was für ein Wunder, dass du ihn noch nie gehört hast«, sagte Schwester Catherine an jenem Morgen zu Tom. »Das spricht für deine Geschicklichkeit! Du bist ein guter Vogelbeobachter. Ich habe dir in den letzten Tagen zugesehen.« Erneut streckte sie ihm das Fernglas hin. »Deshalb habe ich dir das hier mitgebracht. Das macht die Sache viel einfacher.«
    Da nahm er es von ihr entgegen, zaghaft, mit zitternden Händen. Doch er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte.
    Sie lachte freundlich und hielt es sich zur Demonstration selbst vor die Augen. Es dauerte ein Weilchen, aber schließlich schaffte es Tom, das Vogelnest scharf einzustellen. Und als er die offenen, bettelnden Schnäbel und die langen, ungelenken Hälse sah, hätte er am liebsten geweint.

    Er nahm das Fernglas von den Augen und schluckte heftig, um die Tränen zu unterdrücken. Schwester Catherine hatte ihn genau beobachtet, und nun nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zu einer Bank neben dem Durchgang in der Mauer, und dort zog sie eine weitere Überraschung aus den Falten ihrer Ordenstracht: ein kleines, abgegriffenes Bestimmungsbuch.
    Sie zeigte ihm, wie man den Vogel fand, den er beobachtet hatte. Später wurde ihm klar, dass sie von Anfang an gewusst hatte, dass es sich um eine Misteldrossel handelte. Doch sie ließ ihn glauben, er habe die Entdeckung selbst gemacht. Und das war sein Anfang.
    »Du kannst das Fernglas und das Buch behalten«, hatte sie gesagt, »solange du gut darauf aufpasst, wovon ich überzeugt bin. Und solange du

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