Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
Vom Netzwerk:
selbst in seinem eigenen Kopf, etwas verschwommen war, was spielte das schon für eine Rolle?

    Denn eindeutig war jeder jetzt glücklicher. Allen voran er.
    Und allem Anschein nach Addie auch. Addie, die in jenem Sommer eine leuchtende Sonnenbräune annahm und deren langes Haar, von der Sonne ausgebleicht, tagsüber in einem geflochtenen Zopf auf ihren Rücken und nachts über ihre nackten Schultern fiel und im Schein einer einzelnen Kerze neben der Matratze auf dem Fußboden der Fischerhütte schimmerte. Die fröhlich auf dem klapprigen alten Herd, den er in der kargen Küche des Cottage angeschlossen hatte, ihr Abendessen kochte. Die eifrig seine täglichen Notizen abtippte und seine komplexen und beinahe unlesbaren Diagramme des Gesangs von Vireos und Kiefernwaldsängern und Walddrosseln ordnete. Und die schließlich, wie ihr selbst schien, über unbegrenzte Zeit und unbegrenzten Raum – und damit über unbegrenzte Energie – verfügte, um zu beobachten und zu zeichnen und zu malen.
    Was andere über sie sagen könnten, ließ sie scheinbar unberührt. Die Blicke und das Kichern der Studenten (alle außer der verschworenen Gemeinschaft der »Vogelspinner« aus Biologie der Vögel , die Coras und Lous Beispiel folgten und deren unerschütterliche Loyalität ihrem Dozenten Tom Kavanagh gegenüber sie dazu veranlasste, völlig entspannt mit der Angelegenheit umzugehen). Die schockierte Empörung ihrer Eltern, als sie von Addies Plänen für das Jahr nach dem Examen erfuhren – und die sofort Verdacht schöpften, als sie Tom Kavanagh bei Addies Abschlussfeier kennenlernten. All diesen Reaktionen – verärgert, eifersüchtig, aufgebracht, entsetzt – begegnete Addie schweigend, ausdruckslos, mit großen Augen und unerschütterlich, ohne ein spezielles Bedürfnis erkennen zu lassen, sich zu erklären, und ganz bestimmt keins, sich zu entschuldigen.
    Es war Toms erste Begegnung mit ihrer eisernen Entschlossenheit,
ihrer Fähigkeit, jegliche Einwände oder Missbilligung, die ihr persönlich unbegründet, gar absurd vorkamen, einfach nicht wahrzunehmen , wenn sie überzeugt war, dass sie selbst im Recht und andere im Unrecht waren. Denn das war sie in den meisten Fällen – überzeugt.
    Mit Beginn des Wintersemesters im Januar 1966 war Toms und Pollys Ehe formell annulliert, und Addie und Tom hatten in aller Stille begonnen, eine kleine Hochzeit im Mai und im Anschluss seinen offiziellen Einzug in das Cottage am Nisky Creek zu planen. Dann eines Tages im März wurde er zu seinem alten Freund, dem Dekan, zitiert.
    Dieses Treffen verlief überraschend unerfreulich, weit unerfreulicher als die üblichen Debatten über Toms passionierten Unterricht in Evolutionstheorie in den Tagen vor seiner Festanstellung, wenn sich mal wieder ein Student oder ein Elternteil beschwert hatte. Bei diesen Anlässen konnten Tom und der Dekan die Tür schließen und gemeinsam über die Notwendigkeit lachen, wissenschaftliche Fakten »abzumildern«, wenn zum Beispiel ein potenzieller künftiger Sponsor des College seine religiösen Überzeugungen bedroht sah.
    »Wenn diese Leute so sicher sind, die Wahrheit zu kennen, warum stört es sie dann überhaupt?«, fragte Tom jedes Mal ehrlich verblüfft. Gewiss hatte er doch reichlich Menschen gekannt – angefangen mit Schwester Catherine und später auf der Universität in Belfast –, deren religiöse Ansichten solch sorgsamer Verhätschelung kaum bedurften.
    »Ich weiß, ich weiß«, antwortete dann sein Freund, der Physiker, schloss die Augen und nickte. »Sei einfach nur in den nächsten ein oder zwei Vorlesungen ein wenig zurückhaltender, ginge das? Danach legt sich die Aufregung schon von alleine wieder, das ist doch immer so.«

    Den Rest ihres Treffens unterhielten sie sich dann über ihre Forschung oder die Misere des College-Basketballteams.
    Aber dieses Gespräch im Frühjahr 1966 war eindeutig anders. Statt direkt auf den Punkt zu kommen, machte der Dekan, der ungewöhnlich nervös wirkte, oberflächliche Konversation, was er sonst nie zu tun pflegte, schloss bedeutungsschwer die Tür, setzte sich an seinen Schreibtisch und blickte eine Weile aus dem Fenster.
    »Also«, sagte Tom schließlich, inzwischen selbst ganz gegen seine Art nervös geworden, »was ist es dieses Mal, Dan? Ich unterrichte momentan gar keinen Zoologiekurs – es können wohl kaum Beschwerden über Darwin sein, oder?« Er lachte gepresst.
    Der Dekan begegnete seinem Blick kurz und starrte dann einen Brief auf

Weitere Kostenlose Bücher