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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Unbekümmertheit, was Konventionen, was die Erwartungen anderer an sie betraf.
    Im Laufe der Jahre hatte er eine ganze Reihe von Studenten
gehabt, die seine tiefe, beinahe lustvolle Liebe für Vögel teilten. Wenn er sie im Feld beobachtete, dann konnte er es sehen. Ein paar davon hatten ein Zoologiestudium ans College angeschlossen – eine landete sogar in Cornell und suchte sich, zu Toms Überraschung, freiwillig ein taxonomisches Thema, weil sie laut eigener Aussage die Musikalität der lateinischen Vogelnamen so liebte.
    Doch Addie war anders. Wenn er sie in jenen Anfangsmonaten in den Wald begleitete, zählte er immer kaum Vögel – weil er die Augen nicht von ihr abwenden konnte. Wenn sie auf einem niedrigen Ast saß und emsig, lautlos und hingebungsvoll zeichnete, war sie so vertieft in ihre Tätigkeit, dass sie ihn gar nicht bemerkte, obwohl er vielleicht nur zwanzig Meter entfernt stand, das Fernglas vor Augen – und auf sie gerichtet. Er musterte ihre Konturen: die sanfte Wölbung ihrer Stirn und Wangenknochen. Ihre vollen, feuchten Lippen, über die sie beim Zeichnen langsam leckte. Flaumiges Haar im Nacken, eine glitzernde Schweißperle, die sich über das Brustbein hinabschlängelte, Brüste, die sich im gleichmäßigen Atem hoben und senkten, muskulöse Beine, die um den Ast unter ihr geschlungen waren.
    Mitunter beschlichen ihn in jenem ersten Mai Zweifel, dass ihre Begeisterung viel, wenn überhaupt, mit ihm zu tun hatte. Er befürchtete, sie hatte es nur auf die Vögel abgesehen. Gab es dort in den Zeilen ihrer Feldnotizen eine Offenheit ihm gegenüber, ein Interesse an ihm, fragte er sich – oder war er nur ein närrischer, verblendeter älterer Mann, der in seiner Ehe unglücklich war und Addies Leidenschaft für Vögel und Malerei mit einer irgendwie gearteten Empfindung für sich selbst verwechselte? Aber dann der Blick, mit dem sie ihn an jenem Samstagmorgen im Feld ansah, als sie beide ganz allein waren … das, dachte er, bildete er sich doch nicht nur ein.

    Als sie auf die Steine traten, um den Bach zu überqueren, und Addie auf halbem Weg ausrutschte, stockte Tom der Atem. Er hielt sie fest und spürte, dessen war er sich sicher, wie sie ihr gesamtes Gewicht auf ihn stützte. Und dann drehte sie sich um und ließ das Fernglas sinken und sah ihn an, und in dem Moment wusste er es ganz sicher, und seine Hände umfassten ihre Taille, und er küsste sie, und er hätte wieder ein Junge sein können, ein gieriger Junge. Bis nach Kursende zu warten, bis er mit ihr schlief, und ihre nun vollkommen unverblümten Feldnotizen zu lesen – das alles war die reine Qual und die reine Wonne. Vor ihrer ersten gemeinsamen Nacht, mit einem frischen Laken auf der Matratze, die er in das Cottage gebracht hatte, erzählte sie ihm, dass sie noch nie Sex gehabt hatte, und kurz geriet er in Panik und ergriff beinahe die Flucht.
    Doch dann lachte sie ihr silberhelles Zaunköniglachen, das sich nie veränderte. »Man hat mir immer eingeredet, ich solle ›mich aufheben‹«, erklärte sie, »und ich habe nie begriffen, warum.« Sie legte beide Hände um sein Gesicht. »Jetzt verstehe ich, wofür ich mich aufgehoben habe.« Nach dieser Nacht hörte er nie auf, ihren wunderschönen, kleinen Körper, der offen für ihn war und sich nach ihm reckte, als das wunderbarste aller Geschenke zu betrachten. Später, in der Hitze des Sommers, als man schon in den frühen Morgenstunden schwitzte, richtete er wieder sein Fernglas auf sie. Wenn sie den Bleistift weglegte, sich umwandte und sah, dass er sie beobachtete, lächelte sie, zog sich das T-Shirt über den Kopf, öffnete den BH, drehte sich dann ganz zu ihm um und winkte ihn zu sich, während sie sich schon die abgeschnittene Jeans auszog.
    In jenem Sommer und bis in den Herbst hinein verließen sie selten den Wald, ohne sich geliebt zu haben. Im Gras oder im Laub, an jeder beliebigen Stelle, die frei von Brennnesseln
und Giftsumach war. Sie wollten und brauchten keine Decke. Für Tom fühlte es sich jedes Mal an, als flögen sie, schwebten über der Erde mit Knochen so leicht wie Luft. Hinterher ertappte er sich beim Summen. Adeline, sweet Adeline . Seine Walddrossel, seine schwerelose Schönheit.
    Für ihn war sie ein Vogel. Anders konnte er es nicht beschreiben. Aber man stelle sich vor, diese Metapher am Dekan auszuprobieren. Sie ist ein Vogel, Dan. Ein anmutiger, taufrischer Waldsänger auf seiner ersten Reise aus der kanadischen Wildnis gen Süden. Und meine

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