Die Luft, die uns traegt
seinem Schreibtisch an.
»Nein, Tom, nein«, sagte er mit heiserer Stimme. Dann räusperte er sich und sah auf. »Ich wurde gebeten, mit dir bezüglich deiner Absichten …«
»Meiner Absichten?«
»Hinsichtlich der jungen Sturmer zu sprechen.«
»Der ›jungen Sturmer‹?« Sie so bezeichnet zu hören – als wäre sie eine Problemstudentin oder ein seltenes Tier, dachte er – machte ihn zornig. »Ihr Name ist Addie Sturmer, Dan. Und ich kann dir versichern, meine ›Absichten‹, wie du es formulierst, sind ehrenhaft.«
Es empörte ihn wirklich und, um ehrlich zu sein, demütigte es ihn auch, eine solche Frage gestellt zu bekommen. Und doch tat ihm sein alter Freund auch leid, da ihm die Situation so sichtlich unangenehm war und er zweifellos von Rektor und Hochschulrat, denen gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen waren, gezwungen worden war, etwas so Persönliches anzusprechen.
»Dan«, sagte er. »Meine Ehe mit Polly wurde erst vor einem guten Monat annulliert. Jetzt, wo der Weg frei ist, habe ich vor, Addie bald zu heiraten.«
»Wie bald?«, fragte der Dekan, und Tom war betroffen von seiner Schroffheit.
»Voraussichtlich im späten Frühjahr. Sie braucht selbstverständlich noch etwas Zeit, um ihre Eltern vorzubereiten und dergleichen. Das verstehst du doch sicher?«
Aber das tat der Dekan eben nicht, begriff Tom plötzlich. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie wenige seiner Freunde und Kollegen ihn tatsächlich verstanden oder verstehen konnten. War es so merkwürdig, sich zweimal verliebt zu haben? Denn ja, er wusste, dass er Polly einst geliebt hatte – wenn ihm auch heute klar war, dass das eine jugendliche Liebe gewesen war, eine unreife, mehr ein Produkt seines und Pollys gemeinsamen Wunsches, Irland zu verlassen und etwas Neues zu entdecken. Natürlich wusste er, dass Addie erst so alt war wie er damals, aber gleichzeitig schien sie im zarten Alter von einundzwanzig bereits eine Reife zu besitzen, eine Tiefe gar, die nichts mit Lebensjahren zu tun hatte. Ganz sicher, fand er, war sie Welten entfernt von dem weichen, unfertigen Jungen, der er mit einundzwanzig gewesen war. Woher hätte er wissen sollen, als er mit neunzehn Polly begegnete, frisch vom Land und so bereit für sexuelle Erweckung wie jeder andere Dorfministrant, dass noch so viel vor ihm lag? Zuerst würde er als schüchterner Bauernjunge widerstandslos hinnehmen, einen Taxonomen als Tutor in Cornell zugeteilt zu bekommen (wo er seine Doktorarbeit, eine staubtrockene Taxonomie der Vögel im Staat New York, in Rekordzeit beendete). Damals hatte er sich nicht zuzugeben getraut, dass er sich danach sehnte, mit anderen, jüngeren Fakultätsangehörigen in Cornell zu arbeiten – Pionieren der Aufzeichnung von Vogelstimmen. Erst in
Burnham, als er selbst einen akademischen Posten innehatte, ein echtes amerikanisches Gehalt verdiente, war er endlich in der Lage gewesen, sich eingehend mit dem zu befassen, was sein Lebenswerk werden sollte: mit Singvögeln und ihrer Musik wie auch ihrer bedrohten Existenz.
Dann, acht Jahre später, folgte die unerwartete, rauschhafte Entdeckung dieses grazilen und doch stählernen Vogels: Addie Sturmers, der Künstlerin, ungestüm und launenhaft und scheu und zögerlich und unbeschreiblich begabt. Sie war ein Kind von zehn Jahren in den Wäldern Pennsylvanias, als er mit seiner Braut den Atlantik überquerte, und zeichnete mit Clive Behrend in einem derben Verschlag vor den Toren Oxfords Vögel, während seine Ehe sich langsam aufzulösen begann.
Woher hätte er das wissen sollen? Was hätte er anders machen können? Und wie konnte er jetzt etwas ändern – jetzt, wo echte Freude da, in greifbarer Nähe war, das Glück einer Arbeit, die er liebte und die fortdauern würde, das wusste er, und daran anschließend eine leidenschaftliche Liebe, die er sich nie auch nur erträumt hätte und die so unterschiedlich von dem war, was er für Polly empfunden hatte? Eine Liebe, die ein schmerzliches Sehnen in ihm auslöste, und zwar nicht nur sexuell – obwohl sein körperliches Verlangen nach Addie heftig, ja beinahe schockierend gewesen war, nachdem er ihr erstes Feldtagebuch gelesen hatte. Aber ihn quälte zusätzlich auch ein, was genau, Beschützerinstinkt? Na gut, vielleicht eine Art väterlicher Beschützerinstinkt.
Doch das war noch nicht alles, nicht annähernd. Denn er spürte ihr gegenüber auch eine Ehrfurcht. Wahre Ehrfurcht. Vor ihrem ungeschliffenen Talent, vor ihrer aufrichtigen
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