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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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ihr Bett kommen, um die Zeitungscomics zu lesen?
    Als Scarlet um eine Kurve unterhalb der überhängenden Terrasse bog, auf der er saß, verlor Tom seine Tochter kurzzeitig aus dem Blick. Er hielt den Atem an, wurde schlagartig von einer Art Panik ergriffen.
    Dann war sie wieder da, kletterte die letzten Stufen hoch, mit ihrem wilden, zerzausten Haar, dem vom Wind geröteten Gesicht und den offenen braunen Augen, die denen ihrer Mutter und seinen eigenen glichen.
    »Kormorane können Kanadareihern nicht das Wasser reichen«, verkündete sie, ließ sich auf einen Stuhl fallen, zog dann ihre mit Sand gefüllten Turnschuhe von den Füßen und leerte sie nacheinander über das Geländer der Terrasse aus. »Sie sind ausgesprochen langweilig zu beobachten, wenn du mich fragst.«
    »Langweilig?« Er schnappte in gespieltem Entsetzen nach Luft. »Du findest Kormorane langweilig ?«
    Welches Glück , dachte Tom in diesem Moment, als er aus Spaß an den wirren Haaren seiner Tochter zog. Welche Schönheit und welches Glück. Wie in Gottes Namen könnte er es festhalten?

Zwölf
    Der Besuch in Cider Cove überraschte sie alle. Cora und Karl und die Jungen waren glücklich in ihrem neuen Heim und teilten mit Freuden die alten, windschiefen Räume mit Addie, Tom und Scarlet, die auf Matratzen auf dem abschüssigen Fußboden schliefen. Am Ende blieben die Kavanaghs eine ganze Woche.
    Jeden Tag ihres Aufenthalts schob Tom den Gedanken an all die Arbeit, die vor dem Unterrichtsbeginn in ein paar Tagen in Burnham auf ihn wartete, von sich fort. Wie konnte er seine lachende, sonnengebräunte Tochter aus dieser Seligkeit wegzerren? Und auch mit Addie geschah etwas Umwälzendes, das merkte man. Sie war friedlich, ruhig, dem Anschein nach zufrieden, doch in ihr arbeitete etwas – das konnte er sehen –, wenn sie am Strand spazieren ging oder abends mit Cora auf der Veranda saß und Wein trank, manchmal im Gespräch, manchmal auch einfach nur den Geräuschen des Meeres lauschend.
    Schließlich fuhren sie am Abend, bevor Scarlet wieder in die Schule musste, zurück nach Pennsylvania. Wie üblich fehlten ihr die erforderlichen Hefte und Ordner, Turnschuhe und so weiter. Eine Woche lang schrieben Addie und Tom ausweichende Entschuldigungen, in denen sie baten, ihre Tochter
vom Sportunterricht zu befreien, und Scarlet verbrachte diese Stunden zufrieden lesend in der Schulcafeteria.
    Weder Addie noch Tom hatten in dieser ersten Woche Lust, Schulsachen einzukaufen – zumindest nicht solche, die ihre Tochter sichtlich weder wollte noch brauchte. Tom war vollauf mit Sitzungen und den ersten Lehrveranstaltungen beschäftigt. Und Addie igelte sich jeden Tag vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung in ihrem Atelier im Kunstinstitut ein und malte.
    Die Arbeit, die sie in jenem Herbst hervorbrachte, war anders und, in Toms Augen, viel stärker als die Bilder, die sie in Maine gemalt hatte, mit ihren Zirkusfarben, ihrem auf Vögel projizierten Ausdruck übertriebener, eindeutig menschlicher Emotionen. Cartoonartig, hätte er es genannt, obwohl er – theoretisch zumindest, wenn auch nicht mit Kopf oder Herz – begriff, welche Kraft diese Gemälde für viele Betrachter haben würden.
    Die Bilder nach ihrer Woche in Cider Cove waren verstörend auf eine weit unmittelbarere, instinktivere Art, und zeitweise merkwürdig komisch. Manche waren realistisch, wie das einer Wanderdrossel, die unter der Bruthöhle im Nistkasten einer Purpurschwalbe saß und auf ihren deformierten Füßen nicht laufen konnte. Andere waren zwar realistisch in der Ausführung, besaßen aber Elemente des Surrealen: ein Scharlachtangarenweibchen, das seine Jungen nicht mit dem Schnabel fütterte, sondern aus einer Brustwarze, die aus einer kleinen, runden Brust mitten auf ihrer gelben Vorderseite ragte.
    Addie hatte sich angewöhnt, ihre alten Kursmitschriften aus Biologie der Vögel mit ins Atelier zu nehmen. Tom bat sie einmal, dieses Heft sehen zu dürfen. Es war, wie er erwartet hatte, ein ziemlich wahlloses Sammelsurium, wie auch ihre Feldnotizen, in denen sie sich genüsslich über die Aufzeichnungsmethoden,
die er den Studenten an die Hand gegeben hatte, hinwegsetzte. Das Heft war nicht so persönlich wie die Feldnotizen, aber ganz genauso exzentrisch und voller grober Skizzen (oft von ihm) neben beißenden Beobachtungen über ihre Kommilitonen und Plänen für ihr nächstes Bild oder auch fürs Wochenende. Und hin und wieder fand sich eine Information oder eine Bemerkung

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