Die Luft, die uns traegt
Herbst des Jahres 1983, in den Monaten nach Addies Ausstellung in New Hope.
Wieder einmal sprachen sie von einem zweiten Forschungsjahr. Sie würden ein Haus in Cider Cove mieten, sagten sie, die frühen Morgenstunden und die Zeit der Abenddämmerung
am Leuchtturm von Cape May und anderen gut zur Vogelbeobachtung geeigneten Stellen verbringen und die Nachmittage und Abende mit Coras Familie. Einige neue Gemälde waren verkauft worden, es war die Rede von weiteren Ausstellungen, eine Galerie in Philadelphia hatte Interesse bekundet. Und die ganze Zeit über malte Addie weiter.
Dann eines Tages erschien eine kurze Meldung in der örtlichen Zeitung. Bert Schafer hatte einhundertzwanzig Hektar Land erworben, Mischwald und Ackerflächen, vier Kilometer vom Burnham College entfernt auf den sanften Hügeln westlich des Delaware River. Er hatte vor, dort eine Luxuswohnsiedlung zu bauen, großzügige »Landsitze«, jeder mit ein bis zwei Hektar Grund, die vermarktet werden sollten als perfekte Zuflucht für Vorstädter aus der Region Philadelphia, denen es dort allmählich zu voll wurde, und für Leute aus New Jersey, die den hohen Steuern ihres Heimatstaats zu entkommen suchten.
Tom kannte das Gelände gut. In genau diesem Waldstück hatten er und andere Vogelbeobachter in den vergangenen zwei Sommern zwei seltene Waldohreulen gesichtet. Unverzüglich verfasste er einen Leserbrief und forderte einige der örtlichen Mitglieder der Audubon-Gesellschaft auf, das Gleiche zu tun – während er sich gleichzeitig den Kopf zerbrach, wie lange er diese Neuigkeit vor Addie geheim halten könnte, die in letzter Zeit zu beschäftigt gewesen war, um die Lokalzeitung zu lesen.
Vielleicht hätte er es ihr einfach sofort erzählen sollen. Aber er wollte sie beschützen, wollte ihre jüngste Produktivität beschützen und ihre Zufriedenheit, wollte sie vor ihren verschrobenen Aktivistenfreunden beschützen. Und er konnte Vögel, selbst diese eindrucksvollen Eulen, einfach nicht so betrachten wie sie – als Sündenböcke, als Opfertiere, Symbole menschlicher Torheit und Maßlosigkeit.
Ja, Vögel inspirierten Dichtung, Musik, Malerei. Ja, ihr Gesang konnte ihn immer noch, nach all diesen Jahren, schwindlig machen, zittrig vor Entzücken, wie er es als zwölfjähriger Junge gewesen war. Aber letzten Ende waren es eben Vögel . Vertreter der Klasse Aves . Übergriffen durch den Menschen unterworfen, ja sogar ausgeliefert, keine Frage. Aber als Reaktion auf diese Übergriffe sowie auf zahllose weitere, sowohl durch Wirk-, als auch durch Zweckursachen gesteuerte Einflüsse fortwährend und erfolgreich im Prozess der Evolution begriffen. Tom hatte die beiden Begriffe in Addies beinahe unleserlicher Handschrift in ihrem Kursheft entdeckt – diese allerdings leider nicht rot umrandet: zwei Arten von Ursachen in der Biologie: Wirkursachen (unmittelbar, z. B. das Wetter) und Zweckursachen (unablässiger Druck, der im Laufe der Zeit auf Populationen ausgeübt wird) .
Wie konnte er tierisches Leben – Säugetiere namens Menschen eingeschlossen – anders beurteilen?, hatte er Addie viele Male gefragt. Wie konnte er seine geliebten Vögel nicht als sich rational weiterentwickelnde, wie alle anderen auch auf menschliche und sonstige Eingriffe reagierende Spezies wahrnehmen? Natürlich machte ihm der Verlust von Lebensräumen Sorge, der weltweite Klimawandel, die Störungen im Zugverhalten der Vögel, die wachsende Vergiftung von Wasser und Luft – ein Planet, der zu seinem eigenen Verderben in rasantem Tempo die Artenvielfalt auslöschte, die er zum Überleben brauchen würde. Hatte er nicht genau über diese Dinge geschrieben?
Aber Menschen waren trotz allem nur eine von vielen Spezies. Eine Spezies am Anfang ihrer evolutionären Geschichte. Und die »Natur«, die »natürliche Welt« – Begriffe, die er hassen lernte, deren zunehmend sorgloser und unachtsamer Gebrauch ihn wütend machte –, war alles andere als ausgewogen
und gütig. Die Natur war eine Todesmaschine, ein Hexenkessel brutaler Extreme, den im umfassendsten Sinne nur eine Handvoll zäher Individuen überhaupt je überlebt hatte.
Und doch gelang es ihnen wunderbarerweise zu überleben. Sieh sie dir an! Sieh dir all die bemerkenswerten Vogelarten an, die es so weit geschafft haben (bedenke auch, dass ihre frühen Vorfahren möglicherweise Dinosaurier waren) . Trotz Jahrtausenden und Aberjahrtausenden der Verfolgung durch wilde Raubtiere, bevor der Mensch überhaupt auf den
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