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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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aus seinem Vortrag, die aus irgendeinem Grund offenbar Addies Interesse geweckt hatte. Nun, mehr als fünfzehn Jahre später, hatte sie sich dieses Heft noch einmal vorgenommen und einzelne dieser Fakten und Beobachtungen markiert:
    Alfred Russell Wallace kehrte sich gegen Ende seines Lebens desillusioniert von den Lehren der biologischen Evolution ab; später wandte er sich dem Spiritualismus zu. Er war ein erklärter Gegner von Zwangsimpfungen, besonders bei Armen.
    Fotografien haben immer verfälschte Farben – weswegen Darstellungen von Malern besser sind.
    Brutparasiten (z. B. Kuhstärlinge) bauen keine eigenen Nester. Phoeben sind »Brutwirte«.
    Es gibt zwei Arten von falschen Nestern: (1) Attrappe oder Balzplattform und (2) Fluchtort.
    Sperlingsvögel (z. B. Wanderdrosseln) müssen in Napfnestern aufgezogen werden, sonst bekommen sie deformierte Füße.
    Für die alten Ägypter waren Vögel geflügelte Seelen.
    Die Hormone, die den Milchfluss in Vogelkröpfen auslösen, sind denen ähnlich, die den Milchfluss in menschlichen Milchgängen auslösen.
    Vögel: Grundzustand männlich. Säugetiere: Grundzustand weiblich.
    Wanderbewegungen werden von Wetterveränderungen im Osten des Landes ausgelöst.

    Durch genetische Programmierung wissen Vögel wie der Regenpfeifer, wohin sie ziehen müssen und wie sie dort hinkommen, obwohl die Jungen getrennt von ihren Eltern ziehen.
    Als Addie zu Frühlingsbeginn die Werke zusammenstellte, die sie im Rahmen einer Ausstellung in einer Galerie in New Hope zeigen wollte – der Inhaber, ein weiterer ehemaliger Student von Tom, war von ihren neuen Bildern begeistert –, machte Tom den Vorschlag, sie könnte doch entsprechende Passagen aus ihren Notizen als Bildunterschriften verwenden. Er befürchtete natürlich, dass die meisten Betrachter die Vielschichtigkeit ihres Werks gar nicht begreifen würden, und er befürchtete außerdem negative Reaktionen, die Addie zurückwerfen könnten. Würde es das Erleben ihrer Werke nicht bereichern, fragte er, wenn das Publikum wüsste, welche Auswirkungen es auf Sperlingsvögel hatte, wenn sie in den falschen Nestern aufgezogen wurden? Oder dass der Milchfluss im Kropf eines Vogels genau wie der bei Menschen hormonell ausgelöst wurde?
    Sie lächelte nachsichtig und küsste ihn. »Ich überlege es mir, Dr. Kavanagh«, sagte sie und tätschelte ihm die Wange. In den Wochen vor ihrer Ausstellung war sie liebevoller, als sie seit Monaten, vielleicht seit Jahren gewesen war.
    Im Endeffekt entschied sie sich für einfache Titel. Das Bild der Wanderdrossel mit den deformierten Füßen nannte sie Falsche Zuflucht , das der Scharlachtangare mit der menschlichen Brust Grundzustand weiblich .
    Die Reaktionen auf ihre Bilder waren gemischt. Ein Rezensent der Allentowner Zeitung nannte die Florida-Serie »albern«. Doch auch der Philadelphia Inquirer schrieb über die Ausstellung (etwas weiter hinten im Regionalteil der Samstagsausgabe), und deren Kritiker nannte die Werke »aufwühlend
und kraftvoll«, »erfüllt vom leidenschaftlichen Naturschutzgedanken, der auch die Bildtafeln der Künstlerin im skurrilen, aber wegweisenden Buch ihres Ehemannes Eine Prosodie der Vögel von 1969 durchdringt«.
    Es handelte sich ganz offensichtlich um einen weiteren ihrer weit verstreuten Bewunderer. Trotzdem machte es Tom wütend, Addies Arbeit so verkürzt dargestellt zu sehen und zu allem Überfluss auch noch ihr gemeinsames Buch allein zugeschrieben zu bekommen (wobei das von Anfang an ziemlich verbreitet gewesen war). Aber zu seiner Überraschung war Addie selbst hocherfreut. »Was zählt«, sagte sie, »ist, dass er es kapiert hat.«
    Ja, dachte er, es ist gut, dass er und andere es kapieren, und ja, das sind wichtige Dinge, die zweifellos gesagt werden müssen. Aber was, wollte Tom seine Frau manchmal fragen, ist mit dem Gesang ? Hast du völlig die wundervolle Musik dieser Geschöpfe vergessen? Und wie gern wir sie früher hörten, zusammen?
    Natürlich konnte man den Ruf eines Vogels nicht malen. Manche allerdings waren so klagend, so voller Leid – genau das, was sie auch malen würde. Tom überlegte, ob er sie zu einem Versuch überreden sollte. Diese traurigen Gesänge, beispielsweise der Trauertaube, wie der Name schon sagte, aber seinem Empfinden nach auch der Einsiedlerdrossel, des östlichen Waldschnäppertyranns und, ganz besonders in jenem Jahr, der Waldohreule. Das war es, was Tom unentwegt hörte, im Wachen und im Schlafen, im Sommer und

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