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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Keiner von ihnen hatte groß über ein weiteres Forschungsjahr nachgedacht oder gesprochen. Addie glaubte kaum, dass ihre Arbeit einen solch langen Aufenthalt weg von zu Hause, von ihrem Einkommen als Illustratorin und ihrem Umweltaktivismus vor Ort rechtfertigen konnte. Und Tom war Tom – glücklich und zufrieden damit, weiter zu unterrichten und noch mehr Notizen anzuhäufen. Zu welchem Zweck, hätte er nicht sagen können.
    Daher war Addie überrascht, als er den Vorschlag nicht nur einmal, sondern zweimal machte. Jedes Mal natürlich während einer besonders lohnenden Exkursion. Aber immer, wenn er einen längeren Aufenthalt in Florida anregte und Addie sich daraufhin ausmalte, wie sie sich in einem kleinen Örtchen in den Everglades oder, noch schlimmer, einer Stadt
wie Key West niederließen, sah sie nur diese Neonlichter vor ihrem geistigen Auge aufblitzen, diese viel zu hellen, künstlich fröhlichen Farben.
    »Ich glaube nicht, Tom«, sagte sie beim zweiten Mal. »Irgendwie kann ich mir das einfach nicht vorstellen.« Woraufhin er nur die Achseln zuckte, gern bereit, die Idee zu verwerfen. Letzten Endes stellte er diese Überlegungen, Burnham eine Zeitlang zu verlassen, mehr um ihret- als um seinetwillen an.
    Aber wenn sie auch an jenem Morgen im Juli, als sie kurz vor Morgengrauen aus ihrem Traum aufschreckte, kein Jahr in Florida vor sich sah, so sah sie doch diese Farben, und zwar in ihrem Gemälde des Schlangenhalsvogels. Natürlich, das war es, was dem Bild fehlte, und es war ihr mitten in der Nacht einfach geschenkt worden, nachdem sie endlich aufgehört hatte, krampfhaft danach zu suchen. In der stillen Dunkelheit ihres Schlafzimmers zog sie sich an und stieg den Hügel zum Kunstinstitut hinauf. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, das Bild mitzunehmen, denn sie hoffte, ein Monat Pause würde sie irgendwie davon befreien, so dass sie es hinterher entweder endlich fertigstellen und etwas Neues anfangen oder es einfach aufgeben könnte. Nun packte sie es sorgfältig ein, und während der endlosen Fahrt – um New York City herum, durch Boston durch, mit einer Übernachtung bei einem alten Studienkollegen von Tom in Woods Hole auf Cape Cod und dann im Schneckentempo, so kam es Addie vor, an der zerklüfteten Küste von Maine entlang – konnte sie das Warten kaum ertragen.
    Es war der erste – und einzige – Gegenstand, den sie auspackte, den Rest überließ sie Tom und Scarlet. Und an diesem Abend lehnte sie zu Toms Ärger und Betretenheit ab, mit seinem ehemaligen Studenten und dessen Frau, ihren großen
Fans, die extra aus Boston angereist waren, um sie zu begrüßen, essen zu gehen. »Es wird sich noch eine andere Gelegenheit ergeben, sie kennenzulernen«, blieb sie hartnäckig, ohne Toms Unbehagen darüber, allein gehen zu müssen, zu bemerken. »Ich kann jetzt nicht aufhören zu arbeiten.«
    Vierundzwanzig Stunden nach ihrer Ankunft war das Bild fertig. Die Veränderungen waren, oberflächlich zumindest, eher einfach. Der Hintergrund, vor dem der Schlangenhalsvogel mit einem unvermittelten Ruck in die Höhe stieg, war rosa-lila, wolkenartig und wogend: ein Gifthimmel. Und im Auge des Vogels – wie es ihr gelungen war, das so exakt zu malen, konnte Addie nie erklären; es war irgendwie einfach aus ihrem Pinsel geflossen – lag ein Ausdruck, ein unverkennbarer Ausdruck kalten Entsetzens. Etwas, das über Panik hinausging und das ein Kritiker, zu Addies grenzenloser Genugtuung, später einmal als » klares Bewusstsein eines nahe bevorstehenden und grausigen Todes« beschreiben würde.
    Den gesamten Monat in Maine malte sie glücklich, ekstatisch. Sie griff auf all ihre alten Skizzen aus Florida und von anderen Reisen, auch von ihrem Ansitz am Nisky Creek, zurück. In jedem Bild – einem Rotschwanzbussard, einer Rauflügelschwalbe, einem Braunpelikan – lag irgendetwas, das auf drohende Gewalt und drohenden Schmerz deutete: ob nun ebendieser Ausdruck im Blick oder ein unnatürlich gebogener Flügel oder Federn, die stumpf und rau geworden waren. Und doch gab es in den Bildern nichts, dem man die Qual und das Leiden zuordnen konnte. Nichts außer einem grellen, neongesättigten Hintergrund, der von etwas zeugte, das in der Luft lag, was durchdringender war als Rauch und in einer Wolke den hilflosen Vogel umgab.
    Addies Überschwang in jenem Monat freute Tom und Scarlet natürlich. Aber gleichzeitig verunsicherte er sie auch.

    Was tun mit einer glücklichen Ehefrau und Mutter in dieser

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