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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Verfassung – die beim Kochen sang, Mann und Tochter auf ihren täglichen Strandspaziergängen bei Sonnenuntergang ausgelassen attackierte und nassspritzte? Hier war sie plötzlich wieder: die Addie aus Scarlets frühesten und aus Toms liebsten Erinnerungen. Lieber nicht hinterfragen, beschlossen sie, denn beide wussten, dass es klüger war, die glücklichen Momente zu horten, solange es ging.
    Es war Toms Idee, auf dem Rückweg nach Burnham Cora und Karl in New Jersey zu besuchen. Ein paar Tage vor ihrer geplanten Abreise war ein Brief von Cora eingetroffen, nachgesandt nach Maine vom Postamt in Burnham. Sie und Karl und die Jungs zögen in einer Woche in eine Kleinstadt namens Cider Cove an der Küste New Jerseys, schrieb Cora (der Brief stammte von Ende Juli). Sie beschrieb es als ruhigen alten Fischerort nur wenige Kilometer von Cape May entfernt, dem es irgendwie (vielleicht, weil er nicht über eine Strandpromenade verfügte) gelungen war, den Imbissständen und Spielhallen zu entgehen, die sich in den meisten Nachbarstädten in den am Meer gelegenen Straßen drängten.
    Sie zögen, so schrieb Cora, wegen der Kinder dorthin. Obwohl es bedeutete, dass Karl weit zum Büro zu fahren hatte und sie viel Arbeit in das Haus stecken müssten. Hänseleien unter Kindern seien eine Sache, meinte sie, aber die Junior Highschool sei für Richard absolut brutal gewesen. Und nun, da er fast fünfzehn sei, zeigten sogar Erwachsene in ihrem gemütlichen, wohlhabenden Vorort – im Einkaufszentrum oder im Schwimmbad, bei Schulveranstaltungen, in Restaurants – nicht gerade dezent ihr Unbehagen und ihren Widerwillen im Umgang mit jemandem wie Richard. Es sei eine Sache, ein niedlicher, sommersprossiger Junge zu sein, der seine Haare zwirbelte oder mit den Armen schlug und sich zwanghaft im
Kreis drehte, der nie jemandem in die Augen sah und doch gleichzeitig die Angewohnheit hatte, unangenehm dicht neben Menschen zu stehen, die er gar nicht kannte. Aber als großer, schlaksiger junger Mann mit Gesichtsbehaarung und sich ankündigendem Stimmbruch solche Dinge zu tun – das war etwas anderes. Etwas völlig anderes. Sie hofften, schrieb Cora, dass die Dinge sich in einem gelassenen Arbeiterstädtchen wie Cider Cove bessern würden, besonders während der ruhigen Monate der Nebensaison.
    Auch für Bobby sei es natürlich schwer gewesen, sagte sie. Der Umzug sei sogar seine Idee gewesen. »Aber macht es dir nichts aus, deine Schwimmmannschaft und deine Freunde in der Schule aufzugeben?«, hätten sie und Karl ihn gefragt. Seine Antwort sei ein kurz angebundenes »Was für Freunde?« gewesen.
    Obwohl sie ein schrecklich schlechtes Gewissen hatte, Cora erst mit fast einem Monat Verspätung zu antworten, war es gut, das wusste Addie, dass Coras Brief so lange gebraucht hatte. Ganz bestimmt wäre sie nicht in der Lage gewesen, mit einer solchen Energie zu arbeiten, wenn sie ihn früher bekommen hätte. Es machte sie unermesslich traurig und in der Folge, wie üblich bei Dingen, die sie traurig machten, unermesslich wütend. Wie konnten Störungen wie die von Richard immer noch vorkommen?, tobte sie Tom gegenüber, nachdem sie ihm den Brief gezeigt hatte. Ging irgendjemand dem auf den Grund, diesem doch wohl so offensichtlichen Zusammenhang mit Giftstoffen, die bei der Kohleverbrennung freigesetzt werden, zum Beispiel? Erinnerte Tom sich nicht mehr an diese Studie, auf die sie damals gestoßen war, wann war das noch, vielleicht damals, als Richards Diagnose gestellt wurde?
    »Er wurde am Lehigh River gezeugt , verdammt noch mal«,
zischte sie. »Genau dort im Schatten dieser grauenhaften Schornsteine des Stahlwerks in Bethlehem.«
    Sie saßen auf der Terrasse und blickten auf den steilen, felsigen Abhang zwischen Haus und Meer hinab. In der Ferne konnten sie das orangefarbene Sweatshirt und die langen, wehenden Haare Scarlets erkennen, die nach ihrem gemeinsamen nachmittäglichen Spaziergang noch am Strand geblieben war. Atemlos vom Anstieg über den Pfad hinauf zum Haus hatten Tom und Addie unter einem Stein auf der Terrasse Coras Brief entdeckt, dort von einem Nachbarn abgelegt, der die Post im Ort abgeholt hatte. Addies Gesichtsausdruck, als sie ihn las, hatte Tom weit Schlimmeres befürchten lassen, und er war ins Haus gegangen, um ihr etwas Starkes zu trinken zu holen.
    »Addie«, sagte er jetzt und nahm ihre Hand. »Addie, nicht.«
    Doch sie ließ sich nicht beruhigen. Sie stand auf und begann, hin und her zu laufen und dazu

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