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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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zurück nach Burnham betrachtete sie den klaren, strahlenden Himmel durch die Windschutzscheibe. Die Sterne funkelten genau wie in der Nacht vor Scarlets Geburt, erinnerte Addie sich plötzlich. An jenem Abend war es schon nach Mitternacht gewesen, als sie mit noch schwachen und in großen Abständen auftretenden Wehen zusammen mit Tom die stille, ungepflasterte Straße zum Campus hinaufgelaufen war und von dort aus den Weg zwischen den Gebäuden hindurch genommen hatte. Sie hatte die Sterne
bewundert, nach Eulen gelauscht. Die Studenten waren am Tag zuvor in die Sommerferien gefahren, und es war kein Geräusch zu hören gewesen.
    Damals war sie so überaus glücklich gewesen. Und hatte so wenig gewusst. Daher natürlich auch das Glücksgefühl. Was sollte sie nur mit all dem anfangen, was sie seitdem gelernt und erfahren hatte? Mit dem, was sie jetzt mit Bestimmtheit wusste?
    Sie sprachen fast die gesamte Heimfahrt nicht miteinander. Doch an der Abzweigung zum Fluss, fünfzehn Kilometer von Burnham entfernt, drehte sie sich zu ihm hin.
    »Ich habe einen Knoten in meiner Brust gefunden, Tom«, sagte Addie. »So ungern ich das tue, aber ich muss wohl zum Arzt. Was erzählen die Leute denn so von dem Neuen in der Poliklinik des College?«
    Bemitleide mich , hörte sie unter ihren sorgsam zwanglosen Worten heraus. Bemitleide mich, kümmere dich um mich. Egal, wie sehr ich dich womöglich verletzt habe. Sie hasste den Klang ihrer eigenen Stimme.
    Als sie bei ihrem Cottage auf der Haupt Bridge Road ankamen, weinte er schon hemmungslos.
    Feldtagebucheintrag
    30. Mai 1965
Sonntag
    Fischerhütte auf der Haupt Bridge Road, Burnham, PA (nicht weit vom Zusammenfluss Little Creek/Nisky Creek, 1,5 km vom Campus; wo Addie Sturmer und Tom Kavanagh sich zum ersten Mal geliebt haben, auf einer verbeulten alten Matratze unter einem fast vollen Mond, zum Kreischen einer am Himmel kreisenden Eule.

    In süßer Selbstvergessenheit.
    Den Fröschen lauschend.
    Ohne erkennbare Wolkendecke.
    Sich ein miteinander und mit Vögeln verbrachtes Leben ausmalend, während sie sich in die Augen sahen.
    Zeit : 21.00 – 2.00 Uhr
    Beobachter , Habitat , Wetter : siehe oben.
    Bemerkungen : Bitte sing Robert-Burns-Lieder für mich, immer und immer wieder, hör niemals auf.
    Anmerkungen : Deine Augen haben das tiefste Braun, das ich jemals gesehen habe. Ich könnte mein ganzes Leben damit verbringen, die Scharlachtangare festzuhalten, und dich. Und ja. Ich will.

Dreizehn
    Es heißt, jede alte Liebe kehre irgendwann zu einem zurück, auf die eine oder andere Weise. Bei Scarlet stimmte das, jedenfalls für viele. Als sie zum Beispiel mit achtundzwanzig nach New York zog und einen Gedichtband veröffentlichte, fand sie eines Tages auf ihrem Anrufbeantworter eine Nachricht ihres alten Freundes Peter Gleason. Und von da an sahen die beiden sich regelmäßig sonntagabends. Sie trafen sich immer bei Peter, sahen fern, ließen sich chinesisches Essen bringen und weinten in ihren billigen Weißwein über ihre missratenen Liebhaber.
    Auch Addie und Tom, Scarlets erste große Liebe, kamen wieder. Genauer gesagt fand Scarlet den Weg zu ihnen zurück, auch wenn das ein Weilchen dauerte.
    Und dann war da noch Bobby. Obwohl sie Bobby nicht unbedingt als große Liebe bezeichnet hätte. In jenen ersten beiden Sommern in Cider Cove fand sie ihn abwechselnd blöd und nervtötend, dann wieder wild und unbekümmert auf eine Art, die ihr fehlte, ohne dass sie es bis dahin bemerkt hatte. Zusammen brachen sie in verlassene Gebäude ein, rasten mit den Fahrrädern durch enge Seitenstraßen und umzäunte Friedhöfe und die Gärten anderer Leute. Bobbys Furchtlosigkeit im Meer begeisterte sie. Sie wollte alles tun, was er tat. Anfangs.

    Dann, im Sommer 1984, als Scarlet sechzehn und Bobby fünfzehn war – dem Sommer, in dem Richard für jeden verloren schien –, wurde Bobby ihr fremd. Sie war sicher, dass es ihre Schuld war. Schließlich war es ihre Idee gewesen, ihn eines Abends zu küssen, als sie nebeneinander auf einer Bank in dem mit Brettern vernagelten Lokal mitten in der Stadt saßen, wohin sie oft gingen (statt ins Kino oder die Spielhalle, wie sie ihren Eltern erzählten). Und als er ihren Kuss mit eigenartigem Ungestüm erwiderte und unbeholfen nach ihrer Brust tastete, entzog sie sich nicht. Sie hätten an jenem Abend vielleicht miteinander geschlafen, wenn einer von beiden gewusst hätte, wie das ging.
    Danach war Bobby vollkommen unberechenbar. Manchmal stürmte

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