Die Luft, die uns traegt
Petunien.
Wie praktisch, dass sie diese Blumenkübel erst kürzlich, als der erste Frost drohte, nach drinnen gestellt habe, sagte sie, nachdem er von ihr heruntergerollt war. Es sei doch fast wie in einer Laube, oder? Und dann stand sie auf und ging.
Im Laufe der Jahre hatte er immer mal wieder überlegt, was wohl passiert wäre, wenn er damals, im Mai 1965, das eindeutige und unmissverständliche Angebot angenommen hätte, wenn er die schlanke, dunkelhaarige und dunkeläugige Lou, die dort neben der geheimnisvollen jungen Frau saß, die er »die Künstlerin« nannte, nach dem Unterricht zu sich gebeten hätte. Selbstverständlich unmöglich, sich so etwas vorzustellen. Und als Lou einmal nach einem dieser betrunkenen Abendessen in Washington und ein anderes Mal vorher, während sie alle zusammen in Cider Cove zu Besuch waren, durchblicken ließ, dass ihr Angebot immer noch stand, war Tom (obwohl er sich unbestreitbar geschmeichelt fühlte) gleichermaßen klar gewesen, dass Lous Interesse inzwischen mehr mit ihrer Wut auf Ted zu tun hatte als mit echten Gefühlen für Tom.
Addie lachte nur, als er ihr gegenüber einmal beiläufig Lous unverfrorene Offerten erwähnte. »So ist Lou eben«, sagte sie. »Du solltest ihr Angebot einfach eines Tages annehmen – dem Mysterium für euch beide ein für alle Mal ein Ende bereiten.«
Er wusste nicht, ob sie das ernst gemeint hatte. Aber nun
war er vielleicht endlich so wütend wie Lou (in jedem Fall müde, ganz bestimmt müder und verwirrter von seiner Beziehung zu Addie als je zuvor) und hatte es getan. Es überraschte ihn, wie wenige Gewissensbisse er hatte, wie wenige katholische Dämonen sich erhoben, um ihn im Nachhinein heimzusuchen. Andererseits hoffte er, Lou niemals wiederzusehen.
Später duschten sie – getrennt –, und Tom lehnte Lous Einladung zum Abendessen ab, sondern wartete lieber allein in der Wohnung auf Addie. Als sie endlich, deutlich nach Einbruch der Dunkelheit, auftauchte und in den Raum kam, in dem Tom saß und las, warf sie ihm einen flüchtigen Blick zu und begann dann, ihre Sachen zu packen. Er war sich sicher, dass sie Bescheid wusste.
»Es tut mir leid«, sagte sie in der Tür stehend, die hastig geschlossene Tasche in der Hand und die Augen zu Boden gerichtet. »Ich musste den Kopf freikriegen. Ich bin einfach nur gelaufen und habe die Zeit vergessen.« Ohne etwas zu entgegnen, nahm er ihr die Tasche ab und ging voran aus der Wohnung zum Auto.
Addie hatte es sofort bemerkt: Er hatte geduscht. Sie hatte gleich gewusst, warum. Und sie hatte gewusst, dass sie ihn dazu getrieben hatte. Indem sie zu viel las, zu viel dachte, indem sie versuchte, jemandem, irgend jemandem zu sagen: Bitte nimm das zur Kenntnis! Unser Grundwasser ist schon verpestet, nicht nur mit Arsen versetzt, sondern mit zahllosen anderen Giften, die alle von einer von Schafers Baustellen durchsickern. Bei jedem Regen werden Pestizide aus diesen riesigen, unkrautfreien Rasenflächen in den Nisky Creek abfließen, in den Fluss und sich von dort einen Weg in die Bucht von Delaware bahnen. Dann werden sich alle wundern, warum so viele Menschen Krebs haben und warum die Ärzte einfach
nichts dagegen tun können. Denn Gott bewahre, dass wir uns mal genauer ansehen müssten, was wir uns selbst antun.
Aber bisher hatte sie ja unheimlich viel erreicht. Brian Kent saß im Gefängnis, ihre Tochter konnte nicht ertragen, unter einem Dach mit ihr zu wohnen, ihren Mann trieb sie langsam, aber sicher von sich fort. Was hatte sie denn erwartet, ganz ehrlich? Eineinhalb Monate lang hatte es einfach gutgetan stillzuhalten. Sich zu verstecken und stillzuhalten und zu hoffen, dass sie wenigstens einen Menschen zu beschützen in der Lage wäre.
Wobei das natürlich nur ein Teil des Ganzen war. Dazu kam, dass Addie wusste, dass sie ernstlich krank war. Das war ihr seit ihrer ersten Woche bei Lou klar, als sie den Knoten bemerkt hatte. Seitdem schien er gewachsen zu sein, zumindest fühlte es sich für sie so an, wenn sie sich dazu zwang, ihn zu betasten, jeden Morgen nach dem Aufwachen. Sie hatte niemandem davon erzählt. Es verwirrte sie, verblüffte sie regelrecht, wenn sie darüber nachdachte, was als Nächstes zu geschehen hatte. Sie konnte nicht fassen, dass ihr das passierte. Solange sie bei Lou blieb, dachte Addie, konnte sie so tun, als wäre nichts. Außer eben morgens, wenn sie sich zwang, den Knoten abzutasten.
Sie hatte keine Ahnung, was sie machen sollte.
Neben Tom auf der Fahrt
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