Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
Vom Netzwerk:
hatte die geräuschvolleren Zeiten mit Scarlet bevorzugt – Verstecken und Fangen spielen, lauthals zu Pete-Seeger-Platten mitsingen, einander im Bach vollspritzen. Nichts beglückte ihn so wie das übersprudelnde Lachen seiner Tochter.
    Und doch, am Ende eines stillen Tages zu Hause mit Addie, nach ein oder zwei Stunden lautem, ausgelassenem Spiel mit Tom vor dem Abendessen – nach all dem waren es immer die Arme ihrer Mutter, die Scarlet suchte, war es Addies sanfte Liebkosung, die sie in den Schlaf wiegte. Selbst noch lange, nachdem sie die Brust ihrer Mutter aufgegeben hatte. Jahrelang, bis sie mit etwa dreizehn Jahren plötzlich ihren Vater vorzog. Und schließlich, ungefähr ein Jahr später, keinen von ihnen beiden mehr.
    »Was genau empfindest du für sie?«, hatte er Addie manchmal spätabends in ihrem Bett gefragt. »Was empfindest du inzwischen für mich ?« Er konnte einfach das Gefühl nicht abschütteln, dass sich etwas verändert hatte.
    »Du willst, dass ich es benenne, damit du es irgendwie messen kannst, berechnen«, antwortete sie ihm einmal. »Es messen und dann mit irgendeinem Standard vergleichen kannst, den du für die Spezies hast oder so was.«
    »Nein, nein, das stimmt nicht. Ich möchte doch nur verstehen . Bist du jetzt anders, sind wir jetzt anders als damals,
als wir uns kennengelernt haben? Ist unser Leben jetzt erfüllter oder weniger erfüllt, oder irgendwie beides?«
    »Ja und nein und ja und nein, und was für eine Rolle spielt das überhaupt?«, war ihre Antwort. Manchmal auch, wenn er versuchte, so ein Thema anzuschneiden, küsste sie ihn einfach nur, machte das Licht aus und drehte ihm den Rücken zu.
    Und was für eine Rolle spielte es tatsächlich? Aber was er natürlich in Wahrheit verstehen wollte, war ihr Sexleben, das Auf und Ab, die merkwürdigen Wendungen. Noch fünf, zehn, zwanzig Jahre nach ihrer ersten Begegnung war sie manchmal eine so stürmische Liebhaberin wie in jenem ersten Frühling und Sommer. Dann wieder – und zwar nicht unbedingt in ihren traurigen Phasen oder wenn ihre Arbeit ins Stocken geriet, so berechenbar war es nie – machte ihn ihre Gleichgültigkeit ratlos und verschlossen.
    Seine eigene Sehnsucht nach ihr hatte in all den Jahren, die er sie kannte, nie auch nur im Geringsten nachgelassen. Schwanger war sie eine Offenbarung für ihn, und er behütete ihren Bauch zwischen ihnen beiden wie das heilige, verletzliche Ei, das er war. Traurig und unnahbar war sie ein verlorenes Mädchen, das er gern trösten wollte. Glücklich zeichnend und malend war sie die leidenschaftliche junge Frau, in die er sich einst verliebt hatte.
    Wenn sie sich von ihm zurückzog, wusste er nicht, was er tun sollte. »Vielleicht noch ein Kind?«, schlug ein Freund vor, als er einmal seine Frustration durchblicken ließ, als Scarlet etwa zwölf war. Doch das war nicht die Lösung, das wusste Tom. Sie hatten darüber eine unausgesprochene Vereinbarung. Er befürchtete, ein weiteres Kind nicht so vollständig lieben zu können wie Scarlet. Und wenn Addie gefragt wurde, ob sie Scarlet nicht ein Brüderchen oder Schwesterchen schenken wollte (und es war wirklich schockierend, wie ungeniert die
Leute so etwas fragten), dann entgegnete sie immer: »Mehr als ein Kind ist in einer Welt am Abgrund, wie die unsere es ist, nicht zu verantworten.«
    Es musste ebendiese abgrundtiefe Verzweiflung angesichts der misslichen Lage der Erde sein, die Addie von ihm und von ihrer Arbeit entfernte, schlussfolgerte Tom. Nicht Scarlet, nicht die Mutterschaft. Wenn er auch später, nach Scarlets Entschluss, ihr letztes Schuljahr in Cider Cove zu verbringen, annahm, dass noch etwas anderes hinter Addies Kummer und Wut steckte. Eine Ahnung, dass ihre Tochter mit nur siebzehn Jahren für sie verloren war. Aber Addie gegenüber erwähnte er nie etwas Derartiges.
    Das war jener furchtbare Herbst 1985, als Addie sich in Lous Wohnung über der Garage versteckte. Als Vertriebene sozusagen, auf der Flucht vor den Behörden Pennsylvanias, so absurd das auch war – so absurd und seltsam und elend diese ganze Zeit war. Die obszön verschwenderischen Mahlzeiten mit Lou und Ted, das Trinken, ihre gegenseitige Gemeinheit und auch Addies eigenes Trinken und Streiten – nie war sie weiter von Tom entfernt gewesen als an jenen Wochenenden, wenn er sie in Washington besuchte. Lou tat, als wäre das Ganze ein Jux, vielleicht weil es ihren Ehemann ganz unübersehbar ärgerte und entnervte. Und Addie, die ganz

Weitere Kostenlose Bücher