Die Luft, die uns traegt
Addie und Tom, sie jeden Tag mit ihrer rostigen alten Karre zur Schule fahren zu lassen, so dass sie nach ihren fünf Stunden Unterricht direkt zu dem Job fahren konnte, den sie in der Küche eines Pflegeheims
in Doylestown angenommen hatte. Um Weihnachten herum hatte sie bereits ein gut gefülltes Bankkonto und plante heimlich ihre Flucht. Irgendwie würde sie ihr letztes Schuljahr überstehen, dachte sie. Zu arbeiten – und Geld zu verdienen – würde dabei helfen, genau wie die Lektüre von Allen Ginsberg, Anne Rice und John Fowles (ihre Literaturauswahl war so eklektisch und zügellos wie ihr Musikgeschmack).
Und irgendwie würde sie auch ein weiteres Jahr mit ihrer kämpferischen Mutter überleben, die ein Gutteil des Herbstes 1984 erneut auf Schafers Grundstück südlich von Burnham kampierte, auf dem die Fundamente für die neuen Burnham Estates bereits gelegt waren und von dem das Waldohreulenpaar, das Tom im Vorjahr gesichtet hatte, längst verschwunden war. Scarlet würde sich bei irgendeinem College weit weg bewerben, beschloss sie, sich ein Auto kaufen und endlich, endlich Burnham und ihr verrücktes Außenseiterleben hinter sich lassen. Das Einzige, was sie vermissen würde, dachte sie, wäre der Strand von Cider Cove.
Dann, eines Morgens zwischen Weihnachten und Silvester, klingelte das Telefon. Scarlet wachte auf und versuchte, sich wieder umzudrehen und weiterzuschlafen, bis sie die Stimme ihres Vaters hörte, die eigenartig mitten im Satz abbrach. Er weinte, stellte sie fest. Ein Verwandter in Irland, war ihr erster Gedanke, gefolgt von einer plötzlichen Panik, ihre Großmutter, Addies Mutter, könnte gestorben sein. Zu dem Zeitpunkt war Addies Vater schon mehrere Jahre tot, und ihre Mutter wohnte allein in dem alten Bauernhaus in der nordwestlichen Ecke des Staates, wo Addies Bruder John, der in Scranton lebte, sich um sie kümmerte.
Doch da hörte sie Addie, als Reaktion auf das, was Tom ihr mitgeteilt hatte, laut aufheulen und wusste, es musste etwas anderes passiert sein. Addie liebte ihre Mutter, aber auf eine
reservierte Art. Auf die Nachricht ihres Todes hätte sie nicht mit einem solch primitiven Klagelaut reagiert. Das, dachte Scarlet, konnte nur Cora bedeuten.
Und dann stand Tom in Scarlets Zimmer, während Addie in der Küche schluchzte.
»Scarlet, mein Liebling, ich muss dir etwas sagen.« Er setzte sich auf ihre Bettkante und hielt ihre Hände fest. »Erschrick bitte nicht, aber es ist etwas passiert. Das war gerade Karl am Telefon. Richard hat sich gestern erschossen.«
»Was?« Schlagartig war Scarlet wach, tastete sinnlos nach ihren Hausschuhen und ihrem Morgenmantel. Sie rannte in die Küche, Tom auf den Fersen.
Addie so zu sehen, ängstigte Scarlet zu Tode. Natürlich hatte sie ihre Mutter schon traurig gesehen, sogar hin und wieder stille Tränen vergießen. In den letzten Jahren hatte sie Addie selbst einige Male zum Weinen gebracht, mit einer trotzigen Bemerkung oder einer absichtlichen Gemeinheit. Doch das hier war anders – ein unvorstellbar abgrundtiefer Kummer verzerrte das Gesicht ihrer Mutter. Hilflos stand Scarlet mitten im Raum, wusste nicht, wohin sie schauen oder was sie tun sollte, während Tom die von Schluchzen geschüttelte Addie im Arm hielt.
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Scarlet schließlich. Als ihre Eltern sie wortlos ansahen, kannte sie die Antwort. Beide streckten die Arme nach ihr aus, um sie an sich zu ziehen. Doch Scarlet rannte in ihr Zimmer, um allein auf ihrem Bett zu weinen.
Bei der Beerdigung sprach Bobby weder mit Scarlet noch mit sonst jemandem. Cora sah abwesend und eingefallen aus, ihr Haar plötzlich viel grauer als noch vor sechs Monaten, als sie neben Scarlet auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und sie ruhig durch eine scharfe Kurve geführt und gutmütig gelacht
hatte, wenn sie wieder einmal knirschend den Gang einlegte. Karl begrüßte die Trauergäste und steuerte seine völlig verstörte Frau und seinen Sohn durch die ganze Prozedur – den Gottesdienst in der alten Kirche, die Grabrede auf dem Friedhof, über den Bobby, Richard und Scarlet nur zwei Jahre zuvor mit den Fahrrädern gerast waren.
Später, zurück im Haus, überreichte Cora Tom eine Schachtel mit den Vogelnestern, die er mit Richard gebastelt hatte. Und Bobby gab Scarlet einen Stapel Schallplatten. »Ich kann mir die nicht mehr anhören«, sagte er, und Scarlet nickte stumm, sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Lou war auch da, zusammen mit Ted und ihren
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