Die Luft, die uns traegt
beiden kleinen Töchtern. Sie und Addie blieben nach der Beerdigung eine Woche lang bei Cora. Als Addie wieder nach Hause kam, wirkte sie ebenfalls dünner und grauer, wenn auch das Grau nicht so deutlich zu sehen war in ihrem schulterlangen blonden Haar, das sie jetzt kürzer trug, damit es, so vermutete Scarlet, während der ausgedehnten »Campingausflüge« leichter zu pflegen war.
Addie zeichnete oder malte – oder zeltete – eine Zeitlang nach Richards Tod nicht. Sie begann damals ihre Sammlung von Vogelkadavern, deren besser erhaltene sie zu Richard Schantz brachte, um sie ausstopfen und konservieren zu lassen. Hauptsächlich las sie: noch mehr Abhandlungen über die Umwelt, noch mehr Berichte über Pestizidverunreinigung und dergleichen. Und Tom tat, was er immer getan hatte: Er arbeitete.
Nach jenem Morgen, an dem Karl angerufen hatte, trauerte Scarlet nie mehr offen. Aber den ganzen Winter lang wachte sie jeden Morgen mit demselben Bild im Kopf auf: Richards dunkles, unrasiertes Gesicht mit dem zu Boden gerichteten Blick, wenn sie ihm im Sommer zuvor auf dem Flur begegnete.
Danach zwang sie sich in einer Art schmerzlichem, strafendem Ritual dazu, sich Bobby vorzustellen, wie er, wahrscheinlich nach einem Nachmittag am Meer mit seinen Freunden, ins Zimmer seines Bruders ging und Richard dort fand, zusammengesunken auf einem Stuhl, Blutspritzer an der Wand hinter ihm.
Jeden Morgen machte Scarlet das. Addie, das wusste sie, musste ihr eigenes persönliches Ritual haben. (Was stellte sie sich wohl vor?, überlegte Scarlet manchmal. Richard, so traurig und verzweifelt, wie er sich die Waffe in den Mund steckte? Cora, die in ein seltsam stilles Haus zurückkehrte, Bobby schluchzend auf der Treppe fand und dann in Richards Zimmer rannte, nachdem sie sich aus Bobbys Umklammerung ihrer Knöchel losgerissen hatte?) Denn als Brian Kent eines Morgens Anfang April auf ihrer Türschwelle auftauchte und verkündete, er werde die Schule abbrechen und per Anhalter wegfahren, egal wohin, nur fort von seiner drogensüchtigen Mutter, seinem kalten, abweisenden Vater und der Stiefmutter, die nichts mit ihm zu tun haben wollten, da holte Addie ihn ins Haus und machte ihm eine Tasse Kaffee und telefonierte mit ihren Mitstreitern der vergangenen Jahre und erklärte, dass Bert Schafers Bauunternehmer im Begriff seien, die Häuser der ersten Burnham Estates fertigzustellen, und sollten sie nicht lieber aktiv werden?
»Siehst du, Brian«, sagte sie, als sie den Hörer auflegte, »du kannst nicht weglaufen. Wir haben etwas zu tun, und wir brauchen dich hier.«
Und so hatte Scarlet, als Addie im Mai erneut ihre Ausrüstung und Vorräte zusammenstellte und in der Küche ihres Hauses auf der Haupt Bridge Road Versammlungen abhielt – dieses Mal mit Brian und Bob, dem mürrischen Ingenieur, sowie einigen neuen Mitstreitern –, einen Entschluss gefasst.
Wenn Cora und Karl einverstanden wären, würde sie den gesamten Sommer in Cider Cove verbringen.
Sie wusste, dass es Tom traurig machte, sie am Tag nach dem Ende des Schuljahrs ihre Sachen in das alte Auto packen zu sehen, das sie mit ihm zusammen gekauft hatte. Er umarmte sie, sagte kein Wort und hielt ihr die Wagentür auf, und dabei sah sie die Tränen in seinen Augen. Die erste Hälfte des Wegs nach Cider Cove fuhr sie zu schnell über die kurvigen Landstraßen, die Fenster geöffnet, das alte Radio so laut aufgedreht, wie es eben ging, damit der brausende Wind und die kreischenden Gitarren dieses Bild ihres Vaters aus ihrem Gedächtnis vertrieben.
Addies Abschied vor dem Haus war stoischer gewesen. Eine kurze, feste Umarmung, ein Kuss auf beide Wangen. »Grüß Cora lieb von mir«, hatte sie gesagt. Das andere, was Scarlet sich an jenem hellen Junimorgen auf der Fahrt an die Küste New Jerseys nicht gestattete, war, die Frage zu wiederholen, die sie sich während dieser traurigen, ereignisreichen Jahre ihrer Pubertät so oft gestellt hatte: Warum schien Tom sie so viel mehr zu lieben als Addie?
Es war nicht Bobby, was sie am Ende dieses Sommers in Cider Cove hielt. Ihn hatte sie eigentlich kaum zu Gesicht bekommen. Oder auch Karl. Sie beide arbeiteten praktisch unaufhörlich. Laut Bobby war das der Weg seines Vaters, mit Richards Tod umzugehen: indem er absurd lange arbeitete und sich abstrampelte, mit den »Jungtürken« in seinem Büro mitzuhalten, die mit der neuen Technologie so viel leichter zurechtkamen als Karl und die anderen Ingenieure seiner Generation.
»Er
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