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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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er morgens aus dem Haus und knallte die Tür hinter sich zu, ohne auch nur ein Wort an Scarlet zu richten. Dann wieder beobachtete er sie beinahe zärtlich am Frühstückstisch, bot ihr noch Saft an, fragte, was sie an dem Tag unternehmen wolle. Und ob es sie störe, wenn er Richard fragte, ob er mitkäme.
    »Natürlich nicht«, gab sie immer zurück. Und es störte sie wirklich nicht. Seine Art, sich um Richard zu kümmern, war vielmehr eine der Eigenschaften, die sie zu Bobby hinzog. Und sie wiederum war Bobbys einzige Freundin, die verstand und der es nie etwas ausmachte, wer sein Bruder war.
    Außerdem hatten sie und Bobby den gleichen eklektischen Musikgeschmack – eine seltsame Mischung aus Bob Dylan (selbst in seiner rätselhaften christlichen Phase), Pink Floyd, The Clash. Manchmal saßen sie abends bei Richard im Zimmer, aßen haufenweise Junkfood vom Kiosk an der Ecke und hörten sich immer und immer wieder Blood on the Tracks oder The Wall an. Selbst noch mit sechzehn, als Scarlet schon hätte Auto fahren dürfen (wenn entweder Tom oder Addie sich die
Mühe gemacht hätten, es ihr beizubringen), zog sie es vor, mit Bobby und Richard auf dem Fahrrad über die Hügel des Friedhofs von Cider Cove zu jagen und lauthals den Text zu London Calling zu brüllen.
    Eine Art Entwicklungshemmung vielleicht. Mit zwölf, dreizehn, sogar gelegentlich mit vierzehn, dachte Scarlet, war sie glücklich gewesen. Warum nicht einfach die gleichen Dinge tun, die sie damals getan hatte?
    Schließlich nahm Cora es auf sich, Scarlet in jenem Sommer das Autofahren beizubringen. Möglicherweise, um sie und ihre Jungs nachts von den Friedhöfen fernzuhalten, oder möglicherweise, weil sie Scarlets Traurigkeit bemerkte, wenn sie morgens allein mit einem Buch am Frühstückstisch saß und Bobby nachsah, der die Treppe hinunter und aus dem Haus trampelte, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Scarlet sehnte sich in jenem Sommer tatsächlich nach Bobby, zumindest zu Anfang. Nicht, dass sie ihn sonderlich attraktiv fand. Er war kleiner als sie, dürr, und sein lockiges schwarzbraunes Haar war immer ein von Wind und Salzwasser zerzaustes Nest – wobei es, wenn er es denn mal kämmte oder es gar von Cora schneiden ließ, nur noch schlimmer aussah. Nach ihrem einen gescheiterten Knutschversuch hatten er und Scarlet sich darauf geeinigt, es nicht noch einmal zu probieren.
    »Ich glaube, es ist besser, wenn wir einfach nur Freunde bleiben«, hatte er ein paar Tage später zu ihr gesagt, und selbst damals konnte sie das plumpe Fernsehserienklischee aus einer solchen Bemerkung heraushören.
    Doch sie sagte nur: »Klar, du hast Recht.« Denn das war auch alles, was sie sich wünschte, wonach sie sich eigentlich sehnte. Sie wollte ihn gar nicht unbedingt noch einmal küssen, sie wollte nur nicht von ihm zurückgelassen werden. »Wir sind
beide Außenseiter«, hätte sie vielleicht zu ihm gesagt, wenn sie den Mut gehabt hätte. »Wir brauchen einander.«
    Schließlich stürzte sich Scarlet an den Tagen, an denen Bobby sie nicht dabeihaben wollte, aufs Autofahren. Cora war eine gute Lehrerin, und Richard, der sich manchmal anschloss, ein noch besserer. Obwohl er nie selbst fuhr (die Vorstellung, eine vier Tonnen schwere Stahlkiste mitten durch ein Meer von Menschen zu manövrieren, die ihrerseits vier Tonnen schwere Stahlkisten manövrierten, mache ihn viel zu nervös, sagte er), war er ein bemerkenswert ruhiger und aufmerksamer Passagier, wenn er während Scarlets Fahrstunden auf dem Rücksitz von Coras Wagen saß.
    »Du solltest ungefähr zwanzig Meter früher anfangen zu bremsen, etwa fünf Sekunden, nachdem du das Schild ›Gefährliche Kurve‹ gesehen hast«, erklärte er ihr, nachdem sie heftig um eine Straßenbiegung am Rande von Cider Cove geschlingert war. »Danach musst du genau auf Höhe des blauen Briefkastens wieder beschleunigen«, ergänzte er. Als sie bei der nächsten Übungsfahrt seinen Anweisungen folgte, nahm sie die Kurve perfekt.
    Richard gab ihr auch präzise, mathematische Instruktionen, wie man sich in den dichten Verkehr einer Autobahn einfädelte oder parallel einparkte. Im Hochsommer, als sie für mehrere Wochen zurück in Burnham bei Addie und Tom war, hatte Scarlet ihren Führerschein. Noch Jahre später, wenn sie in Manhattan mal wieder einen Wagen gleich beim ersten Versuch in einen unmöglich kleinen Parkplatz setzte, schickte sie einen stillen Dank an Richard.
    Im folgenden Herbst überredete Scarlet

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