Die Lutherverschwörung - historischer Roman
Flugschriften, den er um den Hals trug, zur Seite kippte. Die Flugschriften und Broschüren fielen zu Boden. Der Mann rief Anna Flüche hinterher, aber sie rannte einfach weiter. Ohne Umwege steuerte sie den Geschlechterturm an. Vor der Tür stand ein Söldner, einer von Josts Männern, der sie kannte und mehrmals bei Jost gesehen hatte. Sie blieb vor ihm stehen und rang nach Luft.
»Rasch! Lauft zu Jost!«, keuchte sie.
»Das geht nicht«, wehrte der Söldner ab. »Jost ist drüben im Saal. Die Verhandlung hat schon begonnen.«
»Sagt ihm, dass Wulf sich oben im Kornspeicher versteckt hält! Beeilt Euch, Luthers Leben ist in Gefahr!«
Der Söldner öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie schob ihn mit beiden Händen weg, bis er tatsächlich über den Platz lief, Richtung Dom und Sitzungssaal. Anna zögerte einen Moment. Die Tür zum Haus stand offen, niemand war zu sehen. Wenn die Verhandlung bereits begonnen hatte, konnte die Warnung Jost zu spät erreichen. Sie hatte ihm zwar versprochen, nicht eigenmächtig zu handeln, vor allem sich nicht in Gefahr zu begeben ⦠aber im Dom hatten Jost und seine Leute Wulf entkommen lassen! Sie konnte nicht länger warten, dafür war ihre Ungeduld viel zu groÃ.
Sie lief ins Haus, zur Treppe und nahm gleich zwei Stufen auf einmal. Hinter der Tür zum ersten Stock hörte sie Stimmen, aber sie lief weiter. Der zweite Stock, der dritte, Annas Schritte wurden langsamer. Im vierten Stock blieb sie stehen. Sie musste leise sein. Ihr Herz schlug wild, und Schweià lief ihr über das Gesicht. Jost würde verärgert sein, aber sie musste die Sache zu Ende bringen, also ging sie weiter, denn die Erinnerung an das, was Wulf ihr und Martha angetan hatte, wollte nicht verblassen. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob der Wunsch nach Rache sie blind machte. Der fünfte Stock. Anna ging nun auf Zehenspitzen und lauschte nach jedem zweiten Schritt. Aber es war still! Sie sah die obersten Stufen und einen winzigen Teil des Kornspeichers, zu dem es keine Tür gab. Anna blieb stehen und lauschte; so kam sie wieder zu Atem. Falls Wulf wirklich dort oben war, gab er keinen Laut von sich.
Von nun an nahm sie die Stufen einzeln und pausierte nach jeder. Ihr Mund fühlte sich so trocken an, als hätte sie seit Tagen nichts mehr getrunken, und ihre Kehle war wie zugeschnürt, sodass sie nicht schlucken konnte. Trotz aller Vorsicht knarrten die Stufen leise. Von der obersten aus konnte sie einen groÃen Teil des Speichers einsehen: Kornhaufen, Säcke an den Wänden, eine zerbrochene Schaufel, einen geschlossenen Fensterladen, davor zwei Fässer. Anna nahm allen Mut zusammen und ging vorsichtig ein paar Schritte weiter. Nun konnte sie fast den gesamten Raum einsehen, und ihr Blick fiel wieder auf die Schaufel. Neben dem zerbrochenen Holz bemerkte sie seltsame Flecken auf den Dielen. Ohne weiter nachzudenken, ging sie darauf zu, um besser sehen zu können: Blut!
Im selben Moment spürte sie einen furchtbaren Schmerz im Hinterkopf. Alles um sie herum wurde schwarz.
K APITEL 41
Rückblick: zwei Stunden vor der Verhandlung
Der sächsische Kurfürst deutete auf einen Stuhl, und Jost nahm ihm gegenüber Platz. AuÃer ihnen befand sich noch Spalatin im Raum.
»Ich möchte dir sagen, wie zufrieden ich mit dir bin und dass du mein Vertrauen rechtfertigst, lieber Jost«, sagte Friedrich. »Ãbrigens war die zurückliegende Nacht sehr ereignisreich, auch in der Stadt sind Dinge geschehen, die den Fortgang der Luther-Verhandlung beeinflussen werden, aber behalte das, was ich dir nun sage, für dich, denn es ist streng vertraulich. Unbekannte haben versucht, den Mainzer Bischof einzuschüchtern, sie haben gedroht, ihn zu töten. Es ist nicht sicher, wer dahintersteckt; möglicherweise der Bundschuh. Wie ich aus Erfahrung weiÃ, ist Albrecht eher ein ängstlicher Mensch. So unerfreulich die ganze Geschichte ist, mag sie für unsere Sache von Vorteil sein. Aleander setzt Albrecht zwar unter Druck, aber ich gehe davon aus, dass er sich jetzt zurückhaltend geben wird und wir von ihm nicht befürchten müssen, dass er auf ein hartes Urteil drängt.«
»Ich verstehe nichts von hoher Politik«, sagte Jost, »aber beim ersten Verhör habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Kaiser trotz seiner Jugend eine klare Linie verfolgt. Offenbar verabscheut er
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