Die Lutherverschwörung - historischer Roman
Zuschauer. Es wurde laut im Saal. Die Kommentare, die Jost in seiner unmittelbaren Umgebung hörte, waren alles andere als freundlich. Luthers Gegner fühlten sich in ihrem Urteil bestätigt, jetzt zeige sich sein wahrer Charakter, er sei ein Feigling und habe kalte FüÃe bekommen. Aber selbst von offenkundigen Anhängern kamen bissige und bösartige Bemerkungen. Er sei im Begriff, seine eigene Sache zu verraten, hieà es; ihm fehle es an Standhaftigkeit; nun, da es ernst werde, laufe er davon; er vertage das Problem, statt es zu lösen. Auch Jost war enttäuscht.
Was steckte hinter dem Ausweichmanöver? Handelte es sich um eine Absprache mit Hieronymus Schürf, also um eine juristische Taktik? Aber selbst das hätte Jost ärgerlich gefunden. Sicher, hier fand eine Verhandlung statt, und Luther brauchte einen Rechtsberater, aber in erster Linie standen religiöse Fragen auf der Tagesordnung. Es ging um den christlichen Glauben und um die Wahrheit â durfte man sich da hinter juristischen Verfahrensfragen verstecken? Die Menschen liebten Luther, weil er ihnen das Wort Gottes näherbrachte, sie sahen in ihm eine Art Propheten. Nun schien er Angst zu bekommen und sich verstecken zu wollen.
Johannes von Ecken unterbrach die Verhandlung. Der Kaiser und die Fürsten waren ebenso überrascht wie alle anderen, und sie berieten sich. An ihren heftigen Gesten konnte Jost ablesen, dass einige der Herren sehr aufgebracht waren. Auch der sächsische Kurfürst schaltete sich mehrfach ins Gespräch ein, offenbar fand man nur schwer zu einer Einigung. Die Unruhe im Saal wuchs. Während dieser ganzen Zeit stand Luther allein vor dem Tisch mit den Büchern und machte einen verlorenen und hilflosen Eindruck.
SchlieÃlich fasste man einen Beschluss. Der Sprecher des Kaisers verkündete: »Martin Luther, obwohl Ihr aus dem kaiserlichen Befehl hättet ersehen können, wozu Ihr berufen seid, und deswegen keine weitere Bedenkzeit verdient, bewilligt Euch doch die kaiserliche Majestät aus angeborener Gnade einen Tag zu Eurer Vorbereitung. Mit der Bedingung, frei zu sprechen und keine schriftliche Erklärung vorzulegen, sollt Ihr morgen um dieselbe Stunde wieder erscheinen.«
K APITEL 36
Luther war noch kaum in sein Quartier zurückgekehrt, da hatte sich die Nachricht, dass die Verhandlung auf den nächsten Tag verschoben sei, in der Stadt verbreitet. Schon entstanden die wildesten Gerüchte, und da niemand wusste, was Luther zu seinem Schritt bewogen hatte, überbot man sich in abstrusen Spekulationen. Anna und Hanna, die in der Menschenmenge vor dem Dom gestanden hatten, zogen unterschiedliche Schlüsse, denn während die eine sich in ihrer Skepsis bestätigt sah, glaubte die andere, die Luther bewunderte, an einen geschickten Schachzug. Morgen, so prophezeite Hanna, werde er es allen zeigen.
»Wenn du Jost liebst«, sagte sie, »solltest du mehr Begeisterung für Luther zeigen. SchlieÃlich sind die beiden fast befreundet.«
»Ich schmiere niemandem den Brei ums Maul«, erwiderte Anna, »und wenn man mich nicht so nimmt, wie ich bin, soll man es lassen.«
»Nicht gar zu stolz, junge Frau!«
»In deinem Beruf kann man sich Stolz nicht leisten, ich weiÃ.«
Hanna legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du weiÃt gar nichts, Anna â und wir fangen jetzt keinen Streit an.«
»Es tut mir leid«, sagte Anna. »Aber wenn Luther morgen kneift, sage ich Jost ins Gesicht, dass sein Held für mich ein Feigling ist â ich verstelle mich nicht.«
»Ich verstelle mich auch nicht. Meine Begeisterung für Luther ist echt, und ich habe keine seiner Predigten verpasst. Er hat sich erst mit Tetzel angelegt, dann mit dem Papst und jetzt sogar mit dem Kaiser â so handelt kein Feigling! Und deshalb habe ich volles Vertrauen zu Martin, morgen schenkt er allen tüchtig ein, du wirst schon sehen.«
»Er bleibt immer ein Mönch«, erwiderte Anna.
»Was hast du gegen Mönche? Ohne sie könnte ich meinen Laden dichtmachen.«
Anna musste lachen, während die Menge um sie her sich zerstreute.
»Ich muss mich um meine Mädchen kümmern«, sagte Hanna. »Bis bald.«
Anna beschloss, mit Jost zu sprechen. Gestern, als Wulf entkommen war, hatte sie ihm die kalte Schulter gezeigt. Gesagt hatte sie nichts, aber sie wusste, dass manche Vorwürfe unausgesprochen stärker wirken. Er
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