Die Lutherverschwörung
geselliger Runde, wenn er schon ein Glas Wein getrunken hat oder auch zwei. Wenn er sich wohlfühlt und gut gegessen hat, ist er für vernünftige Vorschläge oft zugänglich.«
Jost musste lächeln. Seit er für den sächsischen Kurfürsten arbeitete, war sein zuvor unstetes Leben etwas ruhiger geworden, und er hatte begonnen, mehr zu lesen. Schon während seiner wilden Jahre hatte man ihn in seiner freien Zeit manchmal mit einem Buch oder einem Flugblatt gesehen. Da Söldner gewöhnlich weder schreiben noch lesen konnten, hatte ihm das Spott eingetragen; aber manchmal auch Respekt, und er hatte sich mit der Zeit zu einer Führungspersönlichkeit entwickelt. Mittlerweile hatte er die vierzig überschritten. Er blickte auf ein ereignisreiches und oft gefährliches Leben zurück, und ertappte sich häufig dabei, sehr allgemeine und grundlegende Fragen zu stellen, die sein Leben betrafen. So war er auf Luthers Schriften gestoßen, in denen er Antworten fand. Es beruhigte ihn geradezu, von Cranach Ratschläge zu bekommen, die den Theologen von einer anderen Seite zeigten. Luther war offenbar manchmal schwierig im Umgang, ein bisschen eitel und durchaus für Schmeicheleien zugänglich – kurz: Er war auch ein ganz gewöhnlicher Mensch.
»Er wird zustimmen, dass Ihr ihn schützt«, sagte Cranach, »und deshalb sehe ich Situationen voraus, die Eure Interessen und seine in Konflikt bringen. Es ist dann Eure Aufgabe, vorauszuschauen und dafür zu sorgen, dass sein Leben nicht in Gefahr gerät. Er wiederum ist von seinen Ideen erfüllt und vergisst darüber seine eigene Sicherheit. Macht Euch darauf gefasst, dass es zu harten Auseinandersetzungen kommen wird. Und lasst Euch nicht abschrecken! Seid diplomatisch! Am besten versucht Ihr, seine Freundschaft zu gewinnen. Das wäre der beste Weg, um gut mit ihm auszukommen. Ihr sagt, Ihr habt manches von ihm gelesen? Sprecht ihn darauf an! Wie alle Leute, die zur Feder greifen, gibt es für ihn kein interessanteres Thema. Wenn er Euch vertraut und ins Herz schließt, werdet Ihr leichtes Spiel haben!«
Die beiden Männer standen auf und gaben sich die Hand. »Danke für die Ratschläge«, sagte Jost. Als er die Kammer verließ, bemerkte er noch, dass Cranach eilig nach seinem Brot griff und gierig hineinbiss. Ein Stück fettige Wurst fiel heraus und rollte über eine der Zeichnungen. Jost ging durch die Werkstatt, wo nur noch zwei Gesellen arbeiteten, von denen einer einen langen, mächtigen Bart kultivierte, wie Jost ihn sich beim Patriarchen Abraham vorstellte. Sie trugen den Hintergrund zu einem Gemälde auf und unterhielten sich dabei über die gestiegenen Getreidepreise.
Jost betrat den Innenhof des Anwesens und sah die Frau, die vorhin mit Cranach gesprochen und sich über sein Erscheinen geärgert hatte. Ein Kind war bei ihr, das mit einem großen, zotteligen Hund spielte; der Hund stellte sich auf die Hinterbeine und berührte mit seinen Pfoten die Schultern des Mädchens, das laut kicherte und ihm das Fell verstrubbelte. Als sie Jost bemerkten, schauten die Frau und das Mädchen zu ihm herüber. Er hatte den Eindruck, als würde die Mutter ihm am liebsten ins Gesicht springen. »Ihr seid ein Barbar!«, sagte sie laut.
Jost schüttelte den Kopf, lachte verlegen, gab aber keine Antwort. Während er davonging, hörte er das Kind fragen: »Was ist das: ein Barbar?«
KAPITEL 5
Niemand in Wittenberg würde ihn kennen, denn er war seit Jahren nicht auf Reisen gewesen. Sicherheitshalber hatte er sich einen Bart wachsen lassen, und auch die Haare, in denen sich frischer Wind fing, trug er länger als sonst. Da er selten auf einem Pferd saß, taten ihm schon alle Knochen weh.
Wulf Kramer zahlte einem alten Mann Wegzoll und überquerte die Elbbrücke. In Ufernähe bemerkte er Eisschollen, unter denen die Strömung murmelte. Vor ihm polterten ein Pferde-und ein Ochsenkarren über die Holzbohlen. Ein Reiter kam ihm entgegen und mehrere Bauern aus der Umgebung; sie trugen leere Körbe in der Hand. Aus dem weißgrauen, gleichförmigen Himmel fielen hauchfeine Flocken, die auf seiner Haut schmolzen und sich langsam, aber stetig in der Kleidung festsetzten. Er trug einen Pilgermantel, eine Wollmütze und Fäustlinge.
Da sich die Dunkelheit noch nicht über das offene Land und den Fluss gesenkt hatte, stand das hinter der Brücke gelegene Tor weit offen. Wulf ritt im Dämmerlicht in die Stadt ein, ohne dass eine der Wachen ihn ansprach. Er passierte ein ärmlich wirkendes
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