Die Lutherverschwörung
wollen ein Stück zusammen gehen«, sagte er. »Es gibt Neuigkeiten. In Worms findet unter den Augen des Kaisers ein Reichstag statt, heute kam sein Herold nach Wittenberg.« Anna war überrascht; davon hatte sie nichts mitbekommen. »Luther muss nach Worms, um seine Schriften zu rechtfertigen. Ich aber will, dass er nie nach Worms aufbricht.«
Anna ahnte, was gleich folgen würde. Der Pilger sagte: »Ich habe erfahren, dass Luther die Ostertage noch in Wittenberg verbringen und sogar predigen will. In spätestens einer Woche aber muss er aufbrechen, um dem Kaiser Rede und Antwort zu stehen.«
Ihr Herz schien stillzustehen.
»Ich habe mich lange hinhalten lassen, aber meine Geduld ist zu Ende. Wenn Ihr Eure Tochter lebend wiedersehen wollt, müsst Ihr nun handeln.«
Sie umrundeten die Stadtkirche. Anna betrachtete sein Gesicht, während er leise sprach. Er hob den Kopf und erwiderte ihren Blick. Seine Augen machten ihr Angst.
»Ich werde ihn töten«, sagte sie.
Anna stand in der Stadtkirche vor einem Altar. Lucas Cranach hatte ihn entworfen, aber der größte Teil des Gemäldes stammte von Berthold. Kerzen brannten dort und hatten den unteren Teil des Triptychons schwarz gefärbt. Anna betrachtete Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm. Auf dem linken Altarflügel war die Kreuzigung Christi zu sehen; dort hielt ein Mann einen Kelch in die Höhe, mit dem er das Blut Christi auffing. Die Szene wies auf das Abendmahl hin – aber irgendwie wurde sie dadurch an ihren Auftrag erinnert. Der Kelch schien das Gift zu enthalten, mit dem sie Luther töten sollte. Er hat mir nichts getan, dachte sie, aber trotzdem ist er schuld an meinem Unglück. Der Kaiser würde Luther in Worms ohnehin zum Tod verurteilen, redete sie sich ein. Also verkürzte sie lediglich sein Schicksal, ersparte ihm Folter und langes Leiden. Martha war erst sieben: Sie hatte das Leben noch vor sich.
Wenn ihr vor einem Monat jemand gesagt hätte, sie sei fähig, einen Menschen zu töten, dann hätte sie ihn ausgelacht. Aber war es überhaupt Mord? Welche Mutter würde nicht alles tun, ihr Kind zu retten? Sie hätte für Martha ihr eigenes Leben gegeben. Bisher waren es nur Gedanken, aber eigenartigerweise wuchs mit jeder Stunde ihr Zorn auf Luther – als habe er ihr die Tochter geraubt.
Anna schaute Maria direkt in die Augen. »Ich werde es tun«, flüsterte sie. »Niemand soll davon erfahren. Und mein Gewissen? Ich habe keins mehr. Wem gegenüber soll ich verantwortlich sein? Gott? Ich weiß nicht einmal, ob es ihn gibt. Wenn es ihn gibt, hat er mich verraten, hat zugelassen, dass Berthold stirbt und dass man mir Martha nimmt. Früher dachte ich, der Mensch sei berufen, selbst göttlich zu sein; aber wir sind Tiere: Fressen oder gefressen werden! Also werde ich töten, damit Martha lebt. Es ist ganz einfach, und ich befolge nur die älteste Regel der Welt.«
Ihr Kopf schmerzte, und da sie lange nichts gegessen hatte, spürte sie plötzlich einen gewaltigen Hunger – offenbar war das Planen eines Mordes anstrengende Arbeit.
KAPITEL 16
Wulf wartete mit Spannung auf Luthers Predigt. Zum ersten Mal würde er sich ein eigenes Bild davon machen können, wes Geistes Kind dieser Mann war. Aus allen Richtungen strömten sonntäglich gekleidete Menschen bei kaltem, sonnigem Wetter auf das Kirchenportal zu.
Er betrat die Stadtkirche und setzte sich auf eine seitlich stehende Bank, von der aus er sowohl den Altar als auch die Eintretenden im Blick behielt. Die besten Plätze wurden von den Honoratioren der Stadt eingenommen. Auch Lucas Cranach war im Hermelinmantel erschienen, neben ihm seine Frau und die Kinder. Barbara trug die Haare hochgesteckt und eine Haube mit langem Schleier. In der Nähe von Cranach saßen Mitglieder des Stadtrats mit ihren Familien und Professoren der Universität, weiter hinten Handwerker und ganz am Ende Bauern aus der Umgebung, Mägde, Knechte, Tagelöhner und Studenten. Sie waren an ihrer einfachen Kleidung unschwer zu erkennen. Die Reihen waren gut gefüllt.
Luther erschien, und der Gottesdienst begann. Die Gesänge und Gebete rauschten an Wulf vorbei, ohne dass er ihnen Beachtung schenkte. Dann war es endlich so weit: Luther betrat die Kanzel.
»Ich möchte zu euch vom Glauben sprechen«, begann er mit fester Stimme. »Der Glaube vermag alle Dinge im Himmel, auf der Erde, in der Hölle und im Fegefeuer.«
Bereits diese wenigen Worte genügten Wulf, um Bescheid zu wissen. Das klang so harmlos, was Luther da redete … Die
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