Die Lutherverschwörung
nicht aufpasse, ist der Turm in Gefahr.« Er war ein Mensch, den nichts aus der Ruhe brachte. Mit seinen vollen, leicht geröteten Backen wirkte er gute zehn Jahre jünger, als er tatsächlich war; dabei hatte er im Gegensatz zu Jost die Mitte der vierzig bereits überschritten. Seine gutmütigen Augen waren ständig in Bewegung und ließen erahnen, wie aufmerksam er war. Tatsächlich arbeiteten seine Gedanken blitzschnell.
Jost schätzte ihn als Ratgeber. Stand eine wichtige Entscheidung an, besprach er sie zuerst mit Helmut.
»Ich schlage dir deinen Turm gleich um die Ohren«, sagte Jost. »Willst du mich zum Narren halten?«
Helmut schüttelte den Kopf. »Luther hat eine Vorladung zum Reichstag erhalten und muss sich dort verantworten.«
Jost spürte wie sein Mut sank. Manchmal brachte die betuliche Art seines Freundes ihn zur Weißglut. Jost zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und betrachtete die Figuren auf dem Brett, als analysiere er die Stellung. In Wirklichkeit sah er nur verschwommene helle und dunkle Flecken.
Helmut zog das Pferd vor den Turm. »Der Reichsherold ist auf dem Weg nach Wittenberg. Er wird Luther nach Worms vorladen.«
»Woher weißt du das, und wann wird er hier sein?«
»Er wird morgen oder übermorgen hier ankommen. Markus, der immer noch nach dem verschwundenen Mädchen sucht, hat es von einem Kaufmann erfahren.«
Eine schlimmere Nachricht konnte Jost sich kaum vorstellen. Das war der Alptraum schlechthin! Hier in Wittenberg konnte er die Situation einigermaßen kontrollieren, auch wenn es schwierig genug war. Aber wie sollte er Luther schützen, falls er sich auf den Weg nach Worms machte? Unterwegs lauerten tausend Gefahren. Und dann erst in Worms, wo es während des Reichstags von Menschen nur so wimmelte! Falls wir ihn überhaupt begleiten, überlegte Jost. Das muss der Kurfürst entscheiden. Wenn Luther in Worms schuldig gesprochen wurde, erledigte sich der Auftrag ohnehin von selbst: Dann landete er nämlich auf dem Scheiterhaufen.
KAPITEL 15
Es kam Anna vor, als sei Martha bereits seit Ewigkeiten verschwunden, dabei waren es erst drei Wochen. Vor zwei Tagen hatte der Pilger ihr einen Brief von Martha gegeben: das geforderte Lebenszeichen. Anna sah keinen Ausweg mehr. Da sie nicht wusste, wo Zainer ihre Tochter versteckt hielt, konnte nur Luthers Tod ihr Martha zurückgeben.
Anfangs hatte sie den Gedanken strikt abgelehnt. Aber je mehr Zeit verstrich, desto stärker wuchsen ihre Zweifel, und sie ertappte sich dabei, wie sie immer häufiger mit dem Gedanken spielte, der Forderung nachzukommen. Wenn Zainer die Wahrheit sagte, dann war es ganz leicht, ein Kinderspiel. Er hatte ihr ein Pulver gegeben, das sie in einem schwarzen Ledersäckchen verwahrte. Zuerst hatte sie es nicht nehmen wollen, aber Zainer hatte ihr die Hand hingehalten und kein Wort gesagt. Er hatte sie nur aus seinen tief liegenden, nussbraunen Augen angestarrt. In seinem Blick lag eine unglaubliche Kraft. Es kam ihr so vor, als könne er allein mit den Augen einem anderen Menschen seinen Willen aufzwingen. Da hatte sie die Hand ausgestreckt.
Wenn es so etwas wie einen persönlichen Sündenfall gibt, dachte Anna, dann war es der Moment, als ich nachgab. Als sie das abgegriffene Ledersäckchen mit dem Pulver in ihren Fingern hielt, kam es ihr vor, als nehme ihr Leben nun eine andere Richtung. Sie hatte sich immer als eine ganz normale Frau betrachtet, aber nun schien nichts mehr »normal« zu sein.
Seit etwa einer Woche bewahrte sie das Gift in ihrer Kammer auf. Sie hatte den winzigen Beutel, der in ihrer Truhe lag, immer vor Augen, konnte kaum noch an etwas anderes denken. Das Gift lockte wie eine bittere Medizin, die Heilung bringt … Es konnte Freiheit für Martha bedeuten – aber sie würde Schuld auf sich laden.
Zainer verkehrte noch immer in Cranachs Werkstatt. Statt des Jesus-Bildes hatte er nun eine »Lukretia« in Auftrag gegeben. Anna selbst hatte ihre Mithilfe angeboten. Wenn das Licht am besten war – meistens vormittags – stand sie Lucas Modell. Viel Kleidung brauchte sie dazu nicht; nur ein Halsband, einen Schleier und einen langen, spitzen Dolch, den sie auf ihr Herz richtete.
An einem Nachmittag ging Anna in die Stadt, um einige Dinge zu besorgen. Die Luft war mild und frühlingshaft, und an den Bäumen zeigten sich grüne Knospen, während die Tage länger und heller wurden. In der Nähe des Marktplatzes sah sie Zainer auf sich zukommen. »Wir
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