Die Macht der Angst (German Edition)
bei Tony und Rosa zu leben. Er war ihr Großneffe. Tonys und Rosas Nichte, Brunos Mutter, hatte die beiden angefleht, ihren Sohn für eine Weile bei sich aufzunehmen, um ihn aus der Reichweite seines gewalttätigen Stiefvaters zu schaffen. Nur so lange, bis sie ihr Leben wieder im Griff und sich von ihm getrennt hätte.
Wie sich herausstellte, hatte sie Bruno gerade noch rechtzeitig weggeschickt. Sie hatte ihr Leben nicht in den Griff bekommen und sich auch nicht getrennt, sondern war kurz darauf gestorben. Grausam.
Gleich nach seiner Ankunft hatte Bruno angefangen, Kev wie ein Schoßhündchen zu folgen und ununterbrochen auf ihn einzuquasseln. Dass Kev nicht in der Lage war zu antworten, hatte für Bruno keinen Unterschied gemacht. Er hatte genug für zwei zu sagen. Der Junge war damals zwölf gewesen, traumatisiert von der Ermordung seiner Mutter, Spielball seiner Hormone, das reinste Nervenbündel. Er hatte dringend jemanden gebraucht, der ihm zuhörte, und Kev war der perfekte Zuhörer. Der Inbegriff eines unfreiwilligen Publikums.
Brunos unablässiges Geplapper und seine enormen emotionalen Bedürfnisse waren der erste Riss in der Mauer gewesen, die Kev in seinem Inneren um sich errichtet hatte. Bruno hatte den langen, schleppenden Prozess seiner seelischen Genesung in Gang gesetzt. Mit Tony hatte das nichts zu tun.
Aber er beklagte sich nicht. Er verdankte Tony sein Leben und einen Ort, an dem er zu heilen hatte beginnen können. Das war eine Menge. Es stand ihm nicht zu, mehr zu erwarten. Er konnte Tony nicht vorwerfen, dass er nicht mehr für ihn getan, sich nicht mehr um ihn gekümmert hatte. Das würde zu nichts führen. Menschen waren, wie sie waren. Sie verfügten über Empathie, oder eben nicht. Kev musste dankbar dafür sein, Bruno gehabt zu haben.
Seine Gedankengänge versetzten ihm einen Stich in die Magengrube. Was sollte das bringen? Er wandte sich wieder dem Computer zu.
Nach einer Weile stand Bruno auf, fläzte sich auf eins der Sofas und zappte durch die Kanäle, bis er eine Sportsendung fand, die ihm zusagte. Der quäkende Fernsehton driftete bald aus Kevs Bewusstsein, während er systematisch die gigantische Pseudowelt des Internets durchforstete.
Seine derzeitige Recherche zielte darauf ab, alle männlichen Ostermans im Alter zwischen fünfzig und siebzig aufzuspüren. Die meisten Kandidaten im Nordwesten hatte er inzwischen ausgeschlossen. Nur einer interessierte ihn noch: Christopher Osterman, Forschungswissenschaftler, vor drei Jahren verstorben. Es gab Tausende Links zu seiner kognitiven Forschung, aber Kev hatte noch immer kein Foto gefunden. Eine Vielzahl der Referenzen befasste sich mit der »Oase«, einer mysteriösen Forschungseinrichtung, die mit der Optimierung von Gehirnleistung experimentierte. Zwischen den Zeilen des Werbematerials filterte Kev heraus, dass es sich dabei um eine Denkfabrik für reiche Sprösslinge handelte, deren Eltern zur Befriedigung des eigenen Egos leistungsstarken Nachwuchs heranzüchten wollten. Das Projekt war nach Ostermans Tod eingestellt worden.
Viele der jungen Leute, die daran teilgenommen hatten, konnten heute brillante Karrieren als Mediziner, Wissenschaftler oder Geschäftsleute vorweisen, zumindest kolportierten das die Werbebroschüren. Weitere Recherchen schienen diese Darstellung zu belegen, allerdings konnten die Erfolge ebenso gut auf reiche Elternhäuser und Vitamin B wie auf Ostermans Gehirnmassagen zurückzuführen sein. Wer wusste das schon?
Kev überprüfte gerade ein paar Ehemalige der Oase, die er auf Facebook gefunden hatte. Sie titulierten sich spitzbübisch als »Club O«, tauschten Fotos aus, schwelgten online in Erinnerungen, Angeberei und Selbstgefälligkeit. Tatsächlich fand er sie als Gruppe betrachtet seltsam abstoßend.
Er schrak zusammen, als Bruno hinter ihm streitlustig verkündete: »Es sind jetzt schon Stunden vergangen. Hast du endlich Hunger?«
Kev hatte vergessen, dass sein Körper überhaupt existierte. Er spürte seinen Magen irgendwo zwischen Zeit und Raum auf und überprüfte seinen Zustand. Nicht optimal. »Noch nicht«, antwortete er.
Bruno grunzte abfällig, dabei linste er über Kevs Schulter. »Facebook? Surfst du nach Weibern? Bist du scharf?«
Kev quittierte das mit einem Schnauben. »Ich sehe mir Online-Fotoalben an. Absolventen dieser Einrichtung namens Oase. Ein Dr. Christopher Osterman hat sie geleitet. Er betrieb kognitive Forschungen. Zur Verbesserung der Gehirntätigkeit. Es gibt einen
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